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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788.

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so weich. Jch trat an sein Lager, und sagte ihm von meiner Liebe vor. Die Tränen schossen ihm die Wangen herab. Mit einmal fuhr er zuckend herum, sprach von gräßlichen Geistergestalten, brach in einen Strohm von unverständlichen, sinnlosen Worten aus, und hätte mich, glaub ich erwürgt, wäre er nicht gebunden gewesen. Jch hab's immer bemerkt, daß sein Anfall am heftigsten ausbrach, wenn er kaum vorher noch wie ein Kind gerührt war.*) Länger kann ich den Jammer nicht ansehen. Nehm er mein Kind zu sich in die Stadt. Rath er, helf er! lieber will ich ihn begraben, als länger lebendig tod vor mir sehen." --

Jch hatte den Eltern nehmlich schon öfters vorgestellt, wie mirs bey meiner Entfernung von dem

*) Es ist eine allgemeine Bemerkung bey Verirrten dieser Art, daß ihre Anfälle schrecklicher werden, so oft eine Rührung, eine Lieblingsvorstellung ihrer gesunden Tage, ein zärtlicher oft befriedigter Trieb, oder gar eine Leidenschaft vorangeht. Das Gefühl kindlicher Liebe erwachte in diesem und im obigen Falle in der Seele des armen Franz. Vermöge der unüberwindlichen Association aber, in der alle seine Jdeen und Empfindungen mit dem traurigen Gegenstande seiner Verirrung stunden, verließ dies süsse Gefühl seinen natürlichen Weg, und theilte seine ganze Lebhaftigkeit jenem herrschenden Gegenstande mit. Zimmermann führt im zweiten Bande seiner Erfahrungen einen interessanten Fall an, der sich aus eben diesem Grundsatz erklären läßt.


so weich. Jch trat an sein Lager, und sagte ihm von meiner Liebe vor. Die Traͤnen schossen ihm die Wangen herab. Mit einmal fuhr er zuckend herum, sprach von graͤßlichen Geistergestalten, brach in einen Strohm von unverstaͤndlichen, sinnlosen Worten aus, und haͤtte mich, glaub ich erwuͤrgt, waͤre er nicht gebunden gewesen. Jch hab's immer bemerkt, daß sein Anfall am heftigsten ausbrach, wenn er kaum vorher noch wie ein Kind geruͤhrt war.*) Laͤnger kann ich den Jammer nicht ansehen. Nehm er mein Kind zu sich in die Stadt. Rath er, helf er! lieber will ich ihn begraben, als laͤnger lebendig tod vor mir sehen.« —

Jch hatte den Eltern nehmlich schon oͤfters vorgestellt, wie mirs bey meiner Entfernung von dem

*) Es ist eine allgemeine Bemerkung bey Verirrten dieser Art, daß ihre Anfaͤlle schrecklicher werden, so oft eine Ruͤhrung, eine Lieblingsvorstellung ihrer gesunden Tage, ein zaͤrtlicher oft befriedigter Trieb, oder gar eine Leidenschaft vorangeht. Das Gefuͤhl kindlicher Liebe erwachte in diesem und im obigen Falle in der Seele des armen Franz. Vermoͤge der unuͤberwindlichen Association aber, in der alle seine Jdeen und Empfindungen mit dem traurigen Gegenstande seiner Verirrung stunden, verließ dies suͤsse Gefuͤhl seinen natuͤrlichen Weg, und theilte seine ganze Lebhaftigkeit jenem herrschenden Gegenstande mit. Zimmermann fuͤhrt im zweiten Bande seiner Erfahrungen einen interessanten Fall an, der sich aus eben diesem Grundsatz erklaͤren laͤßt.
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[104/0104] so weich. Jch trat an sein Lager, und sagte ihm von meiner Liebe vor. Die Traͤnen schossen ihm die Wangen herab. Mit einmal fuhr er zuckend herum, sprach von graͤßlichen Geistergestalten, brach in einen Strohm von unverstaͤndlichen, sinnlosen Worten aus, und haͤtte mich, glaub ich erwuͤrgt, waͤre er nicht gebunden gewesen. Jch hab's immer bemerkt, daß sein Anfall am heftigsten ausbrach, wenn er kaum vorher noch wie ein Kind geruͤhrt war.*) Laͤnger kann ich den Jammer nicht ansehen. Nehm er mein Kind zu sich in die Stadt. Rath er, helf er! lieber will ich ihn begraben, als laͤnger lebendig tod vor mir sehen.« — Jch hatte den Eltern nehmlich schon oͤfters vorgestellt, wie mirs bey meiner Entfernung von dem *) Es ist eine allgemeine Bemerkung bey Verirrten dieser Art, daß ihre Anfaͤlle schrecklicher werden, so oft eine Ruͤhrung, eine Lieblingsvorstellung ihrer gesunden Tage, ein zaͤrtlicher oft befriedigter Trieb, oder gar eine Leidenschaft vorangeht. Das Gefuͤhl kindlicher Liebe erwachte in diesem und im obigen Falle in der Seele des armen Franz. Vermoͤge der unuͤberwindlichen Association aber, in der alle seine Jdeen und Empfindungen mit dem traurigen Gegenstande seiner Verirrung stunden, verließ dies suͤsse Gefuͤhl seinen natuͤrlichen Weg, und theilte seine ganze Lebhaftigkeit jenem herrschenden Gegenstande mit. Zimmermann fuͤhrt im zweiten Bande seiner Erfahrungen einen interessanten Fall an, der sich aus eben diesem Grundsatz erklaͤren laͤßt.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 3. Berlin, 1788, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0603_1788/104>, abgerufen am 25.11.2024.