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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788.

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Zur Seelenzeichenkunde.
Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters Seinselbst.

Die Furcht, lieber alles in der Welt als eitel, schmeichlerisch und heuchlerisch zu scheinen, hat mich von unzähligen, wenigstens gesetzmäßigen (wenn auch nicht der Quelle nach tugendhaften) Handlungen, besonders solchen, die an Großmuth gränzen, zurückgehalten. Denn der mögliche Gedanke andrer, ich wolle besser scheinen, als ich sey, war mir unerträglich; lieber wollte ich in der behaglichen Mittelmäßigkeit bleiben. Aber ist nicht eben diese Furcht ein Beweis von einer raffinirten Eitelkeit, und daß ich eben deswegen den Schein derselben haßte, weil ich wirklich eitel war? Zugleich ist's aber auch ein Beweis, daß ich mit ziemlicher Kälte viel über einen Entschluß zu denken pflegte, und über dem Denken die Wärme zum Handeln verlor.


Bei Anton Reisers Bemerkung (Th. 3. S. 176): "Mystik und Metaphysik treffen in so fern


Zur Seelenzeichenkunde.
Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters Seinselbst.

Die Furcht, lieber alles in der Welt als eitel, schmeichlerisch und heuchlerisch zu scheinen, hat mich von unzaͤhligen, wenigstens gesetzmaͤßigen (wenn auch nicht der Quelle nach tugendhaften) Handlungen, besonders solchen, die an Großmuth graͤnzen, zuruͤckgehalten. Denn der moͤgliche Gedanke andrer, ich wolle besser scheinen, als ich sey, war mir unertraͤglich; lieber wollte ich in der behaglichen Mittelmaͤßigkeit bleiben. Aber ist nicht eben diese Furcht ein Beweis von einer raffinirten Eitelkeit, und daß ich eben deswegen den Schein derselben haßte, weil ich wirklich eitel war? Zugleich ist's aber auch ein Beweis, daß ich mit ziemlicher Kaͤlte viel uͤber einen Entschluß zu denken pflegte, und uͤber dem Denken die Waͤrme zum Handeln verlor.


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[55/0055] Zur Seelenzeichenkunde. Fragmente aus dem Tagebuch eines Beobachters Seinselbst. Die Furcht, lieber alles in der Welt als eitel, schmeichlerisch und heuchlerisch zu scheinen, hat mich von unzaͤhligen, wenigstens gesetzmaͤßigen (wenn auch nicht der Quelle nach tugendhaften) Handlungen, besonders solchen, die an Großmuth graͤnzen, zuruͤckgehalten. Denn der moͤgliche Gedanke andrer, ich wolle besser scheinen, als ich sey, war mir unertraͤglich; lieber wollte ich in der behaglichen Mittelmaͤßigkeit bleiben. Aber ist nicht eben diese Furcht ein Beweis von einer raffinirten Eitelkeit, und daß ich eben deswegen den Schein derselben haßte, weil ich wirklich eitel war? Zugleich ist's aber auch ein Beweis, daß ich mit ziemlicher Kaͤlte viel uͤber einen Entschluß zu denken pflegte, und uͤber dem Denken die Waͤrme zum Handeln verlor. Bei Anton Reisers Bemerkung (Th. 3. S. 176): »Mystik und Metaphysik treffen in so fern

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 2. Berlin, 1788, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0602_1788/55>, abgerufen am 28.04.2024.