Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


Wein getrunken, ich hatte den ganzen Tag über nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe, nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte selbst und die Harmonie aller dabei concurrirenden Umstände heben, wie ich glaube, alle Einwendungen, die man hingegen machen könnte. Aber welcher Philosoph erklärt mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesezten Begriffen von Geist und Körper? Er wird sagen: wie kann der Geist, an den Banden des Körpers gefesselt, ihn verlassen, in einer Entfernung von sieben Meilen in seiner Gestalt erscheinen, und in wenigen Minuten wieder in ihn zurückkehren? Er wird den Kopf schütteln und das Blatt umschlagen. Jch bin nicht böse darüber; aber das würde ich ihm nicht verzeihn können, wenn er mir, da ich mich nie eines Betrugs der Sinne, des Gesichts und Gehörs in einer solchen Nähe erinnern kann, auch bei gesunden Organen nicht möglich ist, ich auch damals in keinem Zustande war, worin solches nur hätte möglich seyn können, wo ich wegen des Winseln des Hundes, und weil ich ziemlich erfroren war, in den Paar Minuten, die ich erst im Bette lag, noch nicht eingeschlafen seyn konnte, auch wahrhaftig, wie ich mir bewußt bin, nicht eingeschlafen war, wo keine Bilder der Jmagination vor meiner Seele und Augen schweben konnten, da ich nicht allein in dem Augenblick nicht an meine


Wein getrunken, ich hatte den ganzen Tag uͤber nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe, nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte selbst und die Harmonie aller dabei concurrirenden Umstaͤnde heben, wie ich glaube, alle Einwendungen, die man hingegen machen koͤnnte. Aber welcher Philosoph erklaͤrt mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesezten Begriffen von Geist und Koͤrper? Er wird sagen: wie kann der Geist, an den Banden des Koͤrpers gefesselt, ihn verlassen, in einer Entfernung von sieben Meilen in seiner Gestalt erscheinen, und in wenigen Minuten wieder in ihn zuruͤckkehren? Er wird den Kopf schuͤtteln und das Blatt umschlagen. Jch bin nicht boͤse daruͤber; aber das wuͤrde ich ihm nicht verzeihn koͤnnen, wenn er mir, da ich mich nie eines Betrugs der Sinne, des Gesichts und Gehoͤrs in einer solchen Naͤhe erinnern kann, auch bei gesunden Organen nicht moͤglich ist, ich auch damals in keinem Zustande war, worin solches nur haͤtte moͤglich seyn koͤnnen, wo ich wegen des Winseln des Hundes, und weil ich ziemlich erfroren war, in den Paar Minuten, die ich erst im Bette lag, noch nicht eingeschlafen seyn konnte, auch wahrhaftig, wie ich mir bewußt bin, nicht eingeschlafen war, wo keine Bilder der Jmagination vor meiner Seele und Augen schweben konnten, da ich nicht allein in dem Augenblick nicht an meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0088" n="86"/><lb/>
Wein getrunken, ich                   hatte den ganzen Tag u&#x0364;ber nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe,                   nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte                   selbst und die Harmonie aller dabei concurrirenden Umsta&#x0364;nde heben, wie ich glaube,                   alle Einwendungen, die man hingegen machen ko&#x0364;nnte. Aber welcher Philosoph erkla&#x0364;rt                   mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesezten Begriffen von                   Geist und Ko&#x0364;rper? Er wird sagen: wie kann der Geist, an den Banden des Ko&#x0364;rpers                   gefesselt, ihn verlassen, in einer Entfernung von sieben Meilen in seiner Gestalt                   erscheinen, und in wenigen Minuten wieder in ihn zuru&#x0364;ckkehren? Er wird den Kopf                   schu&#x0364;tteln und das Blatt umschlagen. Jch bin nicht bo&#x0364;se daru&#x0364;ber; aber das wu&#x0364;rde ich                   ihm nicht verzeihn ko&#x0364;nnen, wenn er mir, da ich mich nie eines Betrugs der Sinne,                   des Gesichts und Geho&#x0364;rs in einer solchen Na&#x0364;he erinnern kann, auch bei gesunden                   Organen nicht mo&#x0364;glich ist, ich auch damals in keinem Zustande war, worin solches                   nur ha&#x0364;tte mo&#x0364;glich seyn ko&#x0364;nnen, wo ich wegen des Winseln des Hundes, und weil ich                   ziemlich erfroren war, in den Paar Minuten, die ich erst im Bette lag, noch nicht                   eingeschlafen seyn konnte, auch wahrhaftig, wie ich mir bewußt bin, nicht                   eingeschlafen war, wo keine Bilder der Jmagination vor meiner Seele und Augen                   schweben konnten, da ich nicht allein in dem Augenblick nicht an meine<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0088] Wein getrunken, ich hatte den ganzen Tag uͤber nicht an meine Mutter gedacht, ich war nicht im Schlafe, nicht krank, hatte den vollkommenen Gebrauch meiner Sinne, und die Geschichte selbst und die Harmonie aller dabei concurrirenden Umstaͤnde heben, wie ich glaube, alle Einwendungen, die man hingegen machen koͤnnte. Aber welcher Philosoph erklaͤrt mir diese Geschichte nach seinen einfachen und zusammengesezten Begriffen von Geist und Koͤrper? Er wird sagen: wie kann der Geist, an den Banden des Koͤrpers gefesselt, ihn verlassen, in einer Entfernung von sieben Meilen in seiner Gestalt erscheinen, und in wenigen Minuten wieder in ihn zuruͤckkehren? Er wird den Kopf schuͤtteln und das Blatt umschlagen. Jch bin nicht boͤse daruͤber; aber das wuͤrde ich ihm nicht verzeihn koͤnnen, wenn er mir, da ich mich nie eines Betrugs der Sinne, des Gesichts und Gehoͤrs in einer solchen Naͤhe erinnern kann, auch bei gesunden Organen nicht moͤglich ist, ich auch damals in keinem Zustande war, worin solches nur haͤtte moͤglich seyn koͤnnen, wo ich wegen des Winseln des Hundes, und weil ich ziemlich erfroren war, in den Paar Minuten, die ich erst im Bette lag, noch nicht eingeschlafen seyn konnte, auch wahrhaftig, wie ich mir bewußt bin, nicht eingeschlafen war, wo keine Bilder der Jmagination vor meiner Seele und Augen schweben konnten, da ich nicht allein in dem Augenblick nicht an meine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/88
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/88>, abgerufen am 07.05.2024.