Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.

Bild:
<< vorherige Seite


den widrigen Zuschriften ihres Mannes ist der meiste Theil geschehen nach 1771. Aber nagender, fressender Kummer verdirbt uns gern die Verdauungskräfte, wird die Ursache scharfer Säfte, leicht gereizter Nerven, erhebt eben dadurch die Einbildungskraft über ihre Schranken. Man denkt über seinen Zustand, man macht Entwürfe, man tröstet sich, und gewöhnt sich dann immer mehr und mehr zum Selbstgespräch; man schüttet seinen Unmuth aus, man hadert, man streitet mit Widerwärtigen, als hätte man sie vor sich. Man nimmt auch wohl seine Zuflucht zum Gebet. Jst's ein Wunder, wenn man auch davon träumt? Wenn vi legis imaginationis et reminiscentiae ähnliche Jdeen, die man gelesen und gehört hat, sich an die gegenwärtigen anknüpfen, als wären sie ganz neu? Man darf dann vollends ein empfindliches Nervensystem haben, so werden aus eignen Gedanken Stimmen, aus einer aufgebrachten Circulation, Schläge und Donner und Geräusch, und Gott weiß, was noch. Man frage Hypochondristen, Melancholische, Fieberpatienten. Jn einem so von allen Seiten turbirten Zustand der Denk- und Vorstellungskraft äussert sich nicht selten die facultas diuinandi, und trifft nicht selten ziemlich richtig, ohne Darzwischenkunft einer höhern Offenbarung. Jst man schon gewohnt, jeden Gedanken als etwas ausser sich existirendes zu betrachten, so hört man wirkliche Worte; und ist der Mensch unwissend in


den widrigen Zuschriften ihres Mannes ist der meiste Theil geschehen nach 1771. Aber nagender, fressender Kummer verdirbt uns gern die Verdauungskraͤfte, wird die Ursache scharfer Saͤfte, leicht gereizter Nerven, erhebt eben dadurch die Einbildungskraft uͤber ihre Schranken. Man denkt uͤber seinen Zustand, man macht Entwuͤrfe, man troͤstet sich, und gewoͤhnt sich dann immer mehr und mehr zum Selbstgespraͤch; man schuͤttet seinen Unmuth aus, man hadert, man streitet mit Widerwaͤrtigen, als haͤtte man sie vor sich. Man nimmt auch wohl seine Zuflucht zum Gebet. Jst's ein Wunder, wenn man auch davon traͤumt? Wenn vi legis imaginationis et reminiscentiae aͤhnliche Jdeen, die man gelesen und gehoͤrt hat, sich an die gegenwaͤrtigen anknuͤpfen, als waͤren sie ganz neu? Man darf dann vollends ein empfindliches Nervensystem haben, so werden aus eignen Gedanken Stimmen, aus einer aufgebrachten Circulation, Schlaͤge und Donner und Geraͤusch, und Gott weiß, was noch. Man frage Hypochondristen, Melancholische, Fieberpatienten. Jn einem so von allen Seiten turbirten Zustand der Denk- und Vorstellungskraft aͤussert sich nicht selten die facultas diuinandi, und trifft nicht selten ziemlich richtig, ohne Darzwischenkunft einer hoͤhern Offenbarung. Jst man schon gewohnt, jeden Gedanken als etwas ausser sich existirendes zu betrachten, so hoͤrt man wirkliche Worte; und ist der Mensch unwissend in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0055" n="53"/><lb/>
den                   widrigen Zuschriften ihres Mannes ist der meiste Theil geschehen nach 1771. Aber                   nagender, fressender Kummer verdirbt uns gern die Verdauungskra&#x0364;fte, wird die                   Ursache scharfer Sa&#x0364;fte, leicht gereizter Nerven, erhebt eben dadurch die                   Einbildungskraft u&#x0364;ber ihre Schranken. Man denkt u&#x0364;ber seinen Zustand, man macht                   Entwu&#x0364;rfe, man tro&#x0364;stet sich, und gewo&#x0364;hnt sich dann immer mehr und mehr zum                   Selbstgespra&#x0364;ch; man schu&#x0364;ttet seinen Unmuth aus, man hadert, man streitet mit                   Widerwa&#x0364;rtigen, als ha&#x0364;tte man sie vor sich. Man nimmt auch wohl seine Zuflucht zum                   Gebet. Jst's ein Wunder, wenn man auch davon tra&#x0364;umt? Wenn <hi rendition="#aq">vi                      legis imaginationis et reminiscentiae</hi> a&#x0364;hnliche Jdeen, die man gelesen                   und geho&#x0364;rt hat, sich an die gegenwa&#x0364;rtigen anknu&#x0364;pfen, als wa&#x0364;ren sie ganz neu? Man                   darf dann vollends ein empfindliches Nervensystem haben, so werden aus eignen                   Gedanken Stimmen, aus einer aufgebrachten Circulation, Schla&#x0364;ge und Donner und                   Gera&#x0364;usch, und Gott weiß, was noch. Man frage Hypochondristen, Melancholische,                   Fieberpatienten. Jn einem so von allen Seiten turbirten Zustand der Denk- und                   Vorstellungskraft a&#x0364;ussert sich nicht selten die <hi rendition="#aq">facultas                      diuinandi,</hi> und trifft nicht selten ziemlich richtig, ohne                   Darzwischenkunft einer ho&#x0364;hern Offenbarung. Jst man schon gewohnt, jeden Gedanken                   als etwas ausser sich existirendes zu betrachten, so ho&#x0364;rt man wirkliche Worte; und                   ist der Mensch unwissend in<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[53/0055] den widrigen Zuschriften ihres Mannes ist der meiste Theil geschehen nach 1771. Aber nagender, fressender Kummer verdirbt uns gern die Verdauungskraͤfte, wird die Ursache scharfer Saͤfte, leicht gereizter Nerven, erhebt eben dadurch die Einbildungskraft uͤber ihre Schranken. Man denkt uͤber seinen Zustand, man macht Entwuͤrfe, man troͤstet sich, und gewoͤhnt sich dann immer mehr und mehr zum Selbstgespraͤch; man schuͤttet seinen Unmuth aus, man hadert, man streitet mit Widerwaͤrtigen, als haͤtte man sie vor sich. Man nimmt auch wohl seine Zuflucht zum Gebet. Jst's ein Wunder, wenn man auch davon traͤumt? Wenn vi legis imaginationis et reminiscentiae aͤhnliche Jdeen, die man gelesen und gehoͤrt hat, sich an die gegenwaͤrtigen anknuͤpfen, als waͤren sie ganz neu? Man darf dann vollends ein empfindliches Nervensystem haben, so werden aus eignen Gedanken Stimmen, aus einer aufgebrachten Circulation, Schlaͤge und Donner und Geraͤusch, und Gott weiß, was noch. Man frage Hypochondristen, Melancholische, Fieberpatienten. Jn einem so von allen Seiten turbirten Zustand der Denk- und Vorstellungskraft aͤussert sich nicht selten die facultas diuinandi, und trifft nicht selten ziemlich richtig, ohne Darzwischenkunft einer hoͤhern Offenbarung. Jst man schon gewohnt, jeden Gedanken als etwas ausser sich existirendes zu betrachten, so hoͤrt man wirkliche Worte; und ist der Mensch unwissend in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/55
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/55>, abgerufen am 21.11.2024.