Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788.
"Jch kenne mich sehr wohl, fährt er nach einer kurzen Einleitung über das Studium seiner selbst, oder das gnothi seauton fort. Jch bin von Natur zum Jähzorn geneigt, bin einfältig, der Wollust ergeben. Hieraus sind andere Fehler geflossen. Jch bin grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig, hitzig, und empfinde ein über meine Kräfte steigendes Verlangen zur Rache, und eine Geneigtheit, daß mir das gefällt, was andre verwerfen, daß ich mich wenigstens so ausdrücke, als wenn mir's gefiele. - Die Rache ist süsser als das Leben selbst. - Jch mache keine Ausnahme von dem Satz, daß unsre Natur zu allem Bösen geneigt ist; ob ich gleich die Wahrheit rede, eingedenk genossener Wohlthaten, ein Freund der Gerechtigkeit und der Meinen, ein Verächter des Geldes, begierig auf Ruhm nach dem Tode bin, und alles Mittelmäßige, des Kleinen nicht zu gedenken, zu verachten pflege. - - Von Natur bin ich zu allen Lastern, zu allem Bösen geneigt. Ausser meinem Ehrgeitz kenne ich meine Unwissenheit als einer. Aus Hochach-
»Jch kenne mich sehr wohl, faͤhrt er nach einer kurzen Einleitung uͤber das Studium seiner selbst, oder das γνώϑι ςεαυτόν fort. Jch bin von Natur zum Jaͤhzorn geneigt, bin einfaͤltig, der Wollust ergeben. Hieraus sind andere Fehler geflossen. Jch bin grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig, hitzig, und empfinde ein uͤber meine Kraͤfte steigendes Verlangen zur Rache, und eine Geneigtheit, daß mir das gefaͤllt, was andre verwerfen, daß ich mich wenigstens so ausdruͤcke, als wenn mir's gefiele. – Die Rache ist suͤsser als das Leben selbst. – Jch mache keine Ausnahme von dem Satz, daß unsre Natur zu allem Boͤsen geneigt ist; ob ich gleich die Wahrheit rede, eingedenk genossener Wohlthaten, ein Freund der Gerechtigkeit und der Meinen, ein Veraͤchter des Geldes, begierig auf Ruhm nach dem Tode bin, und alles Mittelmaͤßige, des Kleinen nicht zu gedenken, zu verachten pflege. – – Von Natur bin ich zu allen Lastern, zu allem Boͤsen geneigt. Ausser meinem Ehrgeitz kenne ich meine Unwissenheit als einer. Aus Hochach- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0116" n="114"/><lb/> seine Sitten, Gemuͤthsgebrechen, seine Jrrthuͤmer, seine Tugenden und Standhaftigkeit ganz in dem Geschmacke eines <hi rendition="#b">Montaigne</hi> und <hi rendition="#b">Rousseau</hi>, und laͤßt uns dadurch tiefe Blicke in die Natur unsrer Empfindungen thun. Er haͤlt uns dadurch einen Spiegel vor, in welchem jeder wenigstens einen Theil seiner Gestalt erblicken kann.</p> <p>»Jch kenne mich sehr wohl, faͤhrt er nach einer kurzen Einleitung uͤber das Studium seiner selbst, oder das γνώϑι ςεαυτόν <choice><corr>fort.</corr><sic>fort</sic></choice> Jch bin von Natur zum Jaͤhzorn geneigt, bin einfaͤltig, der Wollust ergeben. Hieraus sind andere Fehler geflossen. Jch bin grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig, hitzig, und empfinde ein uͤber meine Kraͤfte steigendes Verlangen zur Rache, und eine Geneigtheit, daß mir das gefaͤllt, was andre verwerfen, daß ich mich wenigstens so ausdruͤcke, als wenn mir's gefiele. – Die Rache ist suͤsser als das Leben selbst. – Jch mache keine Ausnahme von dem Satz, daß unsre Natur zu allem Boͤsen geneigt ist; ob ich gleich die Wahrheit rede, eingedenk genossener Wohlthaten, ein Freund der Gerechtigkeit und der Meinen, ein Veraͤchter des Geldes, begierig auf Ruhm nach dem Tode bin, und alles Mittelmaͤßige, des Kleinen nicht zu gedenken, zu verachten pflege. – – Von Natur bin ich zu allen Lastern, zu allem Boͤsen geneigt. Ausser meinem Ehrgeitz kenne ich meine Unwissenheit als einer. Aus Hochach-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0116]
seine Sitten, Gemuͤthsgebrechen, seine Jrrthuͤmer, seine Tugenden und Standhaftigkeit ganz in dem Geschmacke eines Montaigne und Rousseau, und laͤßt uns dadurch tiefe Blicke in die Natur unsrer Empfindungen thun. Er haͤlt uns dadurch einen Spiegel vor, in welchem jeder wenigstens einen Theil seiner Gestalt erblicken kann.
»Jch kenne mich sehr wohl, faͤhrt er nach einer kurzen Einleitung uͤber das Studium seiner selbst, oder das γνώϑι ςεαυτόν fort. Jch bin von Natur zum Jaͤhzorn geneigt, bin einfaͤltig, der Wollust ergeben. Hieraus sind andere Fehler geflossen. Jch bin grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig, hitzig, und empfinde ein uͤber meine Kraͤfte steigendes Verlangen zur Rache, und eine Geneigtheit, daß mir das gefaͤllt, was andre verwerfen, daß ich mich wenigstens so ausdruͤcke, als wenn mir's gefiele. – Die Rache ist suͤsser als das Leben selbst. – Jch mache keine Ausnahme von dem Satz, daß unsre Natur zu allem Boͤsen geneigt ist; ob ich gleich die Wahrheit rede, eingedenk genossener Wohlthaten, ein Freund der Gerechtigkeit und der Meinen, ein Veraͤchter des Geldes, begierig auf Ruhm nach dem Tode bin, und alles Mittelmaͤßige, des Kleinen nicht zu gedenken, zu verachten pflege. – – Von Natur bin ich zu allen Lastern, zu allem Boͤsen geneigt. Ausser meinem Ehrgeitz kenne ich meine Unwissenheit als einer. Aus Hochach-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 6, St. 1. Berlin, 1788, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0601_1788/116>, abgerufen am 27.07.2024. |