Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
Wir können den Charakter eines andern beneiden, allein deswegen beneiden wir die Tugenden des andern noch nicht, -- weil diese immer schon eigentlich mehr von unserm freyen Willen abhängen, jener hingegen nie ganz von dem bloßen Willen des Menschen abhängen kann. Wir wünschen uns oft den ruhigern, festern und unerschütterlichen Charakter, die zufriedenere Art zu handeln, die wir an einem andern bemerken, besonders wenn wir von der Lebhaftigkeit unsrer Leidenschaften hin und her geworfen werden, und wenn diese Lebhaftigkeit uns leicht zum Vorwurf oder Schaden gereichen kann.
Wir koͤnnen den Charakter eines andern beneiden, allein deswegen beneiden wir die Tugenden des andern noch nicht, — weil diese immer schon eigentlich mehr von unserm freyen Willen abhaͤngen, jener hingegen nie ganz von dem bloßen Willen des Menschen abhaͤngen kann. Wir wuͤnschen uns oft den ruhigern, festern und unerschuͤtterlichen Charakter, die zufriedenere Art zu handeln, die wir an einem andern bemerken, besonders wenn wir von der Lebhaftigkeit unsrer Leidenschaften hin und her geworfen werden, und wenn diese Lebhaftigkeit uns leicht zum Vorwurf oder Schaden gereichen kann. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0063" n="63"/><lb/> muß, und sich nicht gern unter den andern in Absicht seiner tugendhaften Handlungen setzen wird. Hiezu kommt noch der Gedanke: daß der andere Tugendhafte nicht durch bloßen Zufall, durch ein unverdientes aͤußeres Geschick, sondern durch eigene Anstrengung, eigenen Fleiß <hi rendition="#b">das ist,</hi> was er ist, und also das zu seyn <hi rendition="#b">verdiene,</hi> was er ist, was bey einem aͤußern Gluͤck uns so selten der Fall zu seyn scheint. — — Noch mehr aber der Gedanke, daß wir ihm, wenn seine Tugend auch sehr beneidenswerth seyn sollte, hierin aͤhnlich werden koͤnnen, wenn wir nur wollen. Ueberhaupt nimmt der Neid gemeiniglich in dem Grade ab, als wir das Gluͤck des beneideten leicht erreichen zu koͤnnen glauben — als uͤberhaupt mehr jenes Gluͤck von unserm freyen Willen abhaͤngt.</p> <p>Wir koͤnnen den <hi rendition="#b">Charakter</hi> eines andern beneiden, allein deswegen beneiden wir die Tugenden des andern noch nicht, — weil diese immer schon eigentlich mehr von unserm freyen Willen abhaͤngen, jener hingegen nie ganz von dem bloßen Willen des Menschen abhaͤngen kann. Wir wuͤnschen uns oft den ruhigern, festern und unerschuͤtterlichen Charakter, die zufriedenere Art zu handeln, die wir an einem andern bemerken, besonders wenn wir von der Lebhaftigkeit unsrer Leidenschaften hin und her geworfen werden, und wenn diese Lebhaftigkeit uns leicht zum Vorwurf oder Schaden gereichen kann.</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0063]
muß, und sich nicht gern unter den andern in Absicht seiner tugendhaften Handlungen setzen wird. Hiezu kommt noch der Gedanke: daß der andere Tugendhafte nicht durch bloßen Zufall, durch ein unverdientes aͤußeres Geschick, sondern durch eigene Anstrengung, eigenen Fleiß das ist, was er ist, und also das zu seyn verdiene, was er ist, was bey einem aͤußern Gluͤck uns so selten der Fall zu seyn scheint. — — Noch mehr aber der Gedanke, daß wir ihm, wenn seine Tugend auch sehr beneidenswerth seyn sollte, hierin aͤhnlich werden koͤnnen, wenn wir nur wollen. Ueberhaupt nimmt der Neid gemeiniglich in dem Grade ab, als wir das Gluͤck des beneideten leicht erreichen zu koͤnnen glauben — als uͤberhaupt mehr jenes Gluͤck von unserm freyen Willen abhaͤngt.
Wir koͤnnen den Charakter eines andern beneiden, allein deswegen beneiden wir die Tugenden des andern noch nicht, — weil diese immer schon eigentlich mehr von unserm freyen Willen abhaͤngen, jener hingegen nie ganz von dem bloßen Willen des Menschen abhaͤngen kann. Wir wuͤnschen uns oft den ruhigern, festern und unerschuͤtterlichen Charakter, die zufriedenere Art zu handeln, die wir an einem andern bemerken, besonders wenn wir von der Lebhaftigkeit unsrer Leidenschaften hin und her geworfen werden, und wenn diese Lebhaftigkeit uns leicht zum Vorwurf oder Schaden gereichen kann.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/63 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/63>, abgerufen am 16.08.2024. |