Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.
Nachdem der oben genannte Weltweise die Schwärmerey der Philosophen so richtig erklärt und dargestellt hat; so wollen wir dies in Rücksicht der letztern um so viel mehr thun, da selbst jene sich auf diese, so wie allemal Vernunft auf Sinnlichkeit gründet, und der menschliche Geist in seinem Fortschritte von der letztern zu der erstern aufstieg. Die menschliche Seele äußert darin einen characteristischen Unterschied und auffallenden Vorzug vor den thierischen Jnstincten, daß, sobald sich nur die frühesten Keime ihrer Entwickelung zeigen, sie nicht bey dem durch die äußern Sinne erhaltenen Eindruck stille stehen bleibt, sondern durch einen eigenthümlichen Mechanismus von dem Gegenwärtigen zum Zukünftigen, von dem Würklichen zum Möglichen, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Würkung zur Ursach übergeht. Diese Willkührlichkeit, womit die Seele des Menschen ihre
Nachdem der oben genannte Weltweise die Schwaͤrmerey der Philosophen so richtig erklaͤrt und dargestellt hat; so wollen wir dies in Ruͤcksicht der letztern um so viel mehr thun, da selbst jene sich auf diese, so wie allemal Vernunft auf Sinnlichkeit gruͤndet, und der menschliche Geist in seinem Fortschritte von der letztern zu der erstern aufstieg. Die menschliche Seele aͤußert darin einen characteristischen Unterschied und auffallenden Vorzug vor den thierischen Jnstincten, daß, sobald sich nur die fruͤhesten Keime ihrer Entwickelung zeigen, sie nicht bey dem durch die aͤußern Sinne erhaltenen Eindruck stille stehen bleibt, sondern durch einen eigenthuͤmlichen Mechanismus von dem Gegenwaͤrtigen zum Zukuͤnftigen, von dem Wuͤrklichen zum Moͤglichen, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Wuͤrkung zur Ursach uͤbergeht. Diese Willkuͤhrlichkeit, womit die Seele des Menschen ihre <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0036" n="36"/><lb/> monstrationen thaten, lange vor ihnen schon der uncultivirteste Naturmensch durch eine natuͤrliche Taͤuschung seiner Einbildungskraft gethan hatte; und eben so gewiß ist es, daß dem Philosophen zur Seite der gemeine Mann, ohne von dem ersten gemißleitet zu seyn, durch einen gleich natuͤrlichen Gang des Menschensinnes uͤber die nehmlichen Begriffe, wenn gleich <choice><corr>nicht schwaͤrmte,</corr><sic>schwaͤrmte</sic></choice> oder vernuͤnftelte, so doch wenigstens wahrscheinlich ahndete, oder schwankend sceptisirte. —</p> <p>Nachdem der oben genannte Weltweise die Schwaͤrmerey der Philosophen so richtig erklaͤrt und dargestellt hat; so wollen wir dies in Ruͤcksicht der letztern um so viel mehr thun, da selbst jene sich auf diese, so wie allemal Vernunft auf Sinnlichkeit gruͤndet, und der menschliche Geist in seinem Fortschritte von der letztern zu der erstern aufstieg.</p> <p>Die menschliche Seele aͤußert darin einen characteristischen Unterschied und auffallenden Vorzug vor den thierischen Jnstincten, daß, sobald sich nur die fruͤhesten Keime ihrer Entwickelung zeigen, <choice><corr>sie nicht</corr><sic>nicht</sic></choice> bey dem durch die aͤußern Sinne erhaltenen Eindruck stille stehen bleibt, sondern durch einen eigenthuͤmlichen Mechanismus von dem Gegenwaͤrtigen zum Zukuͤnftigen, von dem Wuͤrklichen zum Moͤglichen, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Wuͤrkung zur Ursach uͤbergeht. Diese Willkuͤhrlichkeit, womit die Seele des Menschen ihre<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [36/0036]
monstrationen thaten, lange vor ihnen schon der uncultivirteste Naturmensch durch eine natuͤrliche Taͤuschung seiner Einbildungskraft gethan hatte; und eben so gewiß ist es, daß dem Philosophen zur Seite der gemeine Mann, ohne von dem ersten gemißleitet zu seyn, durch einen gleich natuͤrlichen Gang des Menschensinnes uͤber die nehmlichen Begriffe, wenn gleich nicht schwaͤrmte, oder vernuͤnftelte, so doch wenigstens wahrscheinlich ahndete, oder schwankend sceptisirte. —
Nachdem der oben genannte Weltweise die Schwaͤrmerey der Philosophen so richtig erklaͤrt und dargestellt hat; so wollen wir dies in Ruͤcksicht der letztern um so viel mehr thun, da selbst jene sich auf diese, so wie allemal Vernunft auf Sinnlichkeit gruͤndet, und der menschliche Geist in seinem Fortschritte von der letztern zu der erstern aufstieg.
Die menschliche Seele aͤußert darin einen characteristischen Unterschied und auffallenden Vorzug vor den thierischen Jnstincten, daß, sobald sich nur die fruͤhesten Keime ihrer Entwickelung zeigen, sie nicht bey dem durch die aͤußern Sinne erhaltenen Eindruck stille stehen bleibt, sondern durch einen eigenthuͤmlichen Mechanismus von dem Gegenwaͤrtigen zum Zukuͤnftigen, von dem Wuͤrklichen zum Moͤglichen, von dem Sichtbaren zum Unsichtbaren, von der Wuͤrkung zur Ursach uͤbergeht. Diese Willkuͤhrlichkeit, womit die Seele des Menschen ihre
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/36>, abgerufen am 16.02.2025. |