Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

Der neueste Philosoph der Deutschen, der die Vernunft und ihre Vermögen mit einem beynahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es bewiesen, daß dieselbe ein unerläßliches Bedürfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht Vernunft seyn könne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnlichen Organisation uns möglichen Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen. Diese Quelle hat der seit mehr als ein Jahrtausend hindurch herrschende, oft bestrittene und eben so oft wieder erneuerte und verfeinerte Dogmatismus der Philosophen aller Nationen und aller Jahrhunderte, -- eine Art von Schwärmerey, die um so viel gefährlicher war, weil sie durch ihre Natur die scheinbarsten und überredensten Gründe für die Realität ihrer Träumereyen vorzubringen wußte, und überdem noch obenein das Richtmaaß zur Entscheidung zwischen Traum und Wahrheit, Jdealität und Würklichkeit, nehmlich Verstand und Vernunft in ihren Quellen verfälschte.

Unterdessen ist es in der Geschichte der Menschheit durchgängig bestätigt, daß das, was die Philosophen durch lange Reihen weit hergeholter De-


Der neueste Philosoph der Deutschen, der die Vernunft und ihre Vermoͤgen mit einem beynahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es bewiesen, daß dieselbe ein unerlaͤßliches Beduͤrfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht Vernunft seyn koͤnne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnlichen Organisation uns moͤglichen Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen. Diese Quelle hat der seit mehr als ein Jahrtausend hindurch herrschende, oft bestrittene und eben so oft wieder erneuerte und verfeinerte Dogmatismus der Philosophen aller Nationen und aller Jahrhunderte, — eine Art von Schwaͤrmerey, die um so viel gefaͤhrlicher war, weil sie durch ihre Natur die scheinbarsten und uͤberredensten Gruͤnde fuͤr die Realitaͤt ihrer Traͤumereyen vorzubringen wußte, und uͤberdem noch obenein das Richtmaaß zur Entscheidung zwischen Traum und Wahrheit, Jdealitaͤt und Wuͤrklichkeit, nehmlich Verstand und Vernunft in ihren Quellen verfaͤlschte.

Unterdessen ist es in der Geschichte der Menschheit durchgaͤngig bestaͤtigt, daß das, was die Philosophen durch lange Reihen weit hergeholter De-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0035" n="35"/><lb/>
            <p><persName ref="#ref0128"><note type="editorial">Kant, Jmmanuel</note>Der neueste Philosoph der                      Deutschen,</persName> der die Vernunft und ihre Vermo&#x0364;gen mit einem beynahe                   unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es bewiesen, daß dieselbe                   ein <choice><corr>unerla&#x0364;ßliches</corr><sic>unerlaßliches</sic></choice> Bedu&#x0364;rfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht                   Vernunft seyn ko&#x0364;nne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in                   allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie                   er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem                   ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnlichen Organisation uns mo&#x0364;glichen                   Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen. Diese Quelle hat                   der seit mehr als ein Jahrtausend hindurch herrschende, oft bestrittene und eben                   so oft wieder erneuerte und verfeinerte Dogmatismus der Philosophen aller Nationen                   und aller Jahrhunderte, &#x2014; eine Art von Schwa&#x0364;rmerey, die um so viel gefa&#x0364;hrlicher                   war, weil sie durch ihre Natur die scheinbarsten und u&#x0364;berredensten Gru&#x0364;nde fu&#x0364;r die                   Realita&#x0364;t ihrer Tra&#x0364;umereyen vorzubringen wußte, und u&#x0364;berdem noch obenein das                   Richtmaaß zur Entscheidung zwischen Traum und Wahrheit, Jdealita&#x0364;t und                   Wu&#x0364;rklichkeit, nehmlich Verstand und Vernunft in ihren Quellen verfa&#x0364;lschte.</p>
            <p>Unterdessen ist es in der Geschichte der Menschheit durchga&#x0364;ngig besta&#x0364;tigt, daß                   das, was die Philosophen durch lange Reihen weit hergeholter De-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0035] Der neueste Philosoph der Deutschen, der die Vernunft und ihre Vermoͤgen mit einem beynahe unerreichbaren Tiefsinn erforscht und ermessen hat, hat es bewiesen, daß dieselbe ein unerlaͤßliches Beduͤrfniß habe, (ohne welches sie beynahe nicht Vernunft seyn koͤnne,) nachdem sie lange genug die sichtbare Kette der Natur in allen ihren Gliedern verfolgt, jenseits alles Sichtbaren und Sinnlichen, oder, wie er es nach seinem System nennt, jenseits der Erfahrung hinauszugehen, und in einem ganz andern Felde, als dem, der in dieser sinnlichen Organisation uns moͤglichen Erkenntniß, ihre Vollendung und letzte Befriedigung zu suchen. Diese Quelle hat der seit mehr als ein Jahrtausend hindurch herrschende, oft bestrittene und eben so oft wieder erneuerte und verfeinerte Dogmatismus der Philosophen aller Nationen und aller Jahrhunderte, — eine Art von Schwaͤrmerey, die um so viel gefaͤhrlicher war, weil sie durch ihre Natur die scheinbarsten und uͤberredensten Gruͤnde fuͤr die Realitaͤt ihrer Traͤumereyen vorzubringen wußte, und uͤberdem noch obenein das Richtmaaß zur Entscheidung zwischen Traum und Wahrheit, Jdealitaͤt und Wuͤrklichkeit, nehmlich Verstand und Vernunft in ihren Quellen verfaͤlschte. Unterdessen ist es in der Geschichte der Menschheit durchgaͤngig bestaͤtigt, daß das, was die Philosophen durch lange Reihen weit hergeholter De-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/35
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 3. Berlin, 1787, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0503_1787/35>, abgerufen am 25.11.2024.