Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.
Es läßt sich nicht denken, daß ein eingeschränkter Geist das ganze Universum übersieht, und folglich müssen ihm noch unzählig viele Dinge zufällig scheinen, und er kann auf keine andere Art etwas Künftiges vorhersehen, als in so fern er das Vergangene mit dem Gegenwärtigen vergleicht und daraus auf irgend eine individuelle Begebenheit einen Schluß macht, so wie der Mensch etwas vorhersieht. Daß ein Mensch, der seinen Weg ganz von ohngefähr vor einem Gebüsch vorbei nimmt, auf die zufälligste Weise von der Welt durch eine Kugel, welche nach einem Wild abgeschossen wurde, sein Leben verliert; daß ein Anderer durch eine unerwartete Unordnung des Bluts im Tanze todt zur Erde fällt; daß ein völlig gesunder Mensch übermorgen sterben wird; daß meine Schicksale des Lebens diese, und keine andere Wendung nehmen konnten, da es für die Vorstellungskraft eines endlichen Geistes unendlich viel andere Wendungen geben kann, -- alle dergleichen würklich zufällige Begebenheiten können wir von keinem endlichen Geiste entdeckt werden, weil er sie selbst nicht weiß.
Es laͤßt sich nicht denken, daß ein eingeschraͤnkter Geist das ganze Universum uͤbersieht, und folglich muͤssen ihm noch unzaͤhlig viele Dinge zufaͤllig scheinen, und er kann auf keine andere Art etwas Kuͤnftiges vorhersehen, als in so fern er das Vergangene mit dem Gegenwaͤrtigen vergleicht und daraus auf irgend eine individuelle Begebenheit einen Schluß macht, so wie der Mensch etwas vorhersieht. Daß ein Mensch, der seinen Weg ganz von ohngefaͤhr vor einem Gebuͤsch vorbei nimmt, auf die zufaͤlligste Weise von der Welt durch eine Kugel, welche nach einem Wild abgeschossen wurde, sein Leben verliert; daß ein Anderer durch eine unerwartete Unordnung des Bluts im Tanze todt zur Erde faͤllt; daß ein voͤllig gesunder Mensch uͤbermorgen sterben wird; daß meine Schicksale des Lebens diese, und keine andere Wendung nehmen konnten, da es fuͤr die Vorstellungskraft eines endlichen Geistes unendlich viel andere Wendungen geben kann, — alle dergleichen wuͤrklich zufaͤllige Begebenheiten koͤnnen wir von keinem endlichen Geiste entdeckt werden, weil er sie selbst nicht weiß. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><hi rendition="#b"><pb facs="#f0008" n="8"/><lb/> ist es denkbar, daß ein eingeschraͤnkter Geist,</hi> (denn dies sind auch die weit uͤber uns erhabnern Wesen — ) <hi rendition="#b">das ganze Universum so uͤberschauen koͤnne, daß er das Nothwendige, uns aber zufaͤllig scheinende, uns dennoch entdecken koͤnne?</hi> —</p> <p>Es laͤßt sich nicht denken, daß ein eingeschraͤnkter Geist das ganze Universum <hi rendition="#b">uͤbersieht,</hi> und folglich muͤssen ihm noch unzaͤhlig viele Dinge <hi rendition="#b">zufaͤllig</hi> scheinen, und er kann auf keine andere Art etwas <hi rendition="#b">Kuͤnftiges</hi> vorhersehen, als in so fern er das Vergangene mit dem Gegenwaͤrtigen <hi rendition="#b">vergleicht</hi> und daraus auf irgend eine individuelle Begebenheit einen Schluß macht, <hi rendition="#b">so</hi> wie der Mensch etwas <hi rendition="#b">vorhersieht.</hi></p> <p>Daß ein Mensch, der seinen Weg ganz von ohngefaͤhr vor einem Gebuͤsch vorbei nimmt, auf die zufaͤlligste Weise von der Welt durch eine Kugel, welche nach einem Wild abgeschossen wurde, sein Leben verliert; daß ein Anderer durch eine unerwartete Unordnung des Bluts im Tanze todt zur Erde faͤllt; daß ein voͤllig gesunder Mensch uͤbermorgen sterben wird; daß meine Schicksale des Lebens <hi rendition="#b">diese,</hi> und keine andere Wendung nehmen konnten, da es fuͤr die Vorstellungskraft eines endlichen Geistes unendlich viel andere Wendungen geben kann, — alle dergleichen <hi rendition="#b">wuͤrklich zufaͤllige</hi> Begebenheiten koͤnnen wir von keinem <hi rendition="#b">endlichen</hi> Geiste entdeckt werden, <hi rendition="#b">weil er sie selbst nicht weiß.</hi></p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [8/0008]
ist es denkbar, daß ein eingeschraͤnkter Geist, (denn dies sind auch die weit uͤber uns erhabnern Wesen — ) das ganze Universum so uͤberschauen koͤnne, daß er das Nothwendige, uns aber zufaͤllig scheinende, uns dennoch entdecken koͤnne? —
Es laͤßt sich nicht denken, daß ein eingeschraͤnkter Geist das ganze Universum uͤbersieht, und folglich muͤssen ihm noch unzaͤhlig viele Dinge zufaͤllig scheinen, und er kann auf keine andere Art etwas Kuͤnftiges vorhersehen, als in so fern er das Vergangene mit dem Gegenwaͤrtigen vergleicht und daraus auf irgend eine individuelle Begebenheit einen Schluß macht, so wie der Mensch etwas vorhersieht.
Daß ein Mensch, der seinen Weg ganz von ohngefaͤhr vor einem Gebuͤsch vorbei nimmt, auf die zufaͤlligste Weise von der Welt durch eine Kugel, welche nach einem Wild abgeschossen wurde, sein Leben verliert; daß ein Anderer durch eine unerwartete Unordnung des Bluts im Tanze todt zur Erde faͤllt; daß ein voͤllig gesunder Mensch uͤbermorgen sterben wird; daß meine Schicksale des Lebens diese, und keine andere Wendung nehmen konnten, da es fuͤr die Vorstellungskraft eines endlichen Geistes unendlich viel andere Wendungen geben kann, — alle dergleichen wuͤrklich zufaͤllige Begebenheiten koͤnnen wir von keinem endlichen Geiste entdeckt werden, weil er sie selbst nicht weiß.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/8>, abgerufen am 03.07.2024. |