Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787.
Jch komme zum letzten Zufluchtsorte derer, welche an Ahndungen und Vorgefühle des Zukünftigen glauben. Die Gottheit, sagen sie, kann vermöge ihrer Allmacht neue Jdeen in uns erwecken; sie kann uns also auch, freilich auf eine unbegreifliche Art, zukünftige Dinge bekannt machen und vorhersagen. Auch diesen Satz kann man nicht so geradezu annehmen. Man hat sich von jeher sehr schiefe und unrichtige Begriffe von der göttlichen Allmacht erträumt, man hat sich sogar nicht gescheut zu sagen: daß Gott auch das Sonderbarste, das Widernatürlichste, das, was gar nicht in der Natur der Dinge gegründet ist, würklich machen könne. Welch eine Gottheit! Gott macht nach den reinen Vernunftbegriffen, die wir von seinen Eigenschaften haben, nichts würklich, kann nichts würklich machen, was nicht in dem ewigen Wesen der Dinge gegründet ist. Dieses Wesen kann er nicht ändern, er kann also auch nicht machen, daß meine Seele Begriffe empfängt, die nicht in der Natur, in dem Wesen ihrer individuellen Denk-
Jch komme zum letzten Zufluchtsorte derer, welche an Ahndungen und Vorgefuͤhle des Zukuͤnftigen glauben. Die Gottheit, sagen sie, kann vermoͤge ihrer Allmacht neue Jdeen in uns erwecken; sie kann uns also auch, freilich auf eine unbegreifliche Art, zukuͤnftige Dinge bekannt machen und vorhersagen. Auch diesen Satz kann man nicht so geradezu annehmen. Man hat sich von jeher sehr schiefe und unrichtige Begriffe von der goͤttlichen Allmacht ertraͤumt, man hat sich sogar nicht gescheut zu sagen: daß Gott auch das Sonderbarste, das Widernatuͤrlichste, das, was gar nicht in der Natur der Dinge gegruͤndet ist, wuͤrklich machen koͤnne. Welch eine Gottheit! Gott macht nach den reinen Vernunftbegriffen, die wir von seinen Eigenschaften haben, nichts wuͤrklich, kann nichts wuͤrklich machen, was nicht in dem ewigen Wesen der Dinge gegruͤndet ist. Dieses Wesen kann er nicht aͤndern, er kann also auch nicht machen, daß meine Seele Begriffe empfaͤngt, die nicht in der Natur, in dem Wesen ihrer individuellen Denk- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0010" n="10"/><lb/> kannt machen, schon <hi rendition="#b">erwiesen</hi>? — und was ich billig haͤtte zuerst fragen sollen: <hi rendition="#b">giebt es denn wuͤrklich uns umgebende Genien uͤberhaupt?</hi> Kann ich eine Hypothese, <hi rendition="#b">(die Ahndungen)</hi> mit einer andern Hypothese <hi rendition="#b">(uns umgebende Geister)</hi> beweisen, und darf ich nicht an der ganzen Sache zweifeln, so lange ich keine andere, als <hi rendition="#b">solche</hi> Gruͤnde fuͤr sie habe? — —</p> <p>Jch komme zum letzten Zufluchtsorte derer, welche an Ahndungen und Vorgefuͤhle des Zukuͤnftigen glauben. <hi rendition="#b">Die Gottheit,</hi> sagen sie, kann <hi rendition="#b">vermoͤge ihrer Allmacht neue Jdeen</hi> in uns erwecken; sie kann uns also auch, freilich auf eine unbegreifliche Art, zukuͤnftige Dinge bekannt machen und vorhersagen. Auch diesen Satz kann man nicht so geradezu annehmen. Man hat sich von jeher sehr schiefe und unrichtige Begriffe von der goͤttlichen Allmacht ertraͤumt, man hat sich sogar nicht gescheut zu sagen: daß Gott auch das <hi rendition="#b">Sonderbarste,</hi> das <hi rendition="#b">Widernatuͤrlichste,</hi> das, was gar nicht in der Natur der Dinge <hi rendition="#b">gegruͤndet</hi> ist, <hi rendition="#b">wuͤrklich</hi> machen koͤnne. Welch eine Gottheit! Gott <hi rendition="#b">macht</hi> nach den reinen Vernunftbegriffen, die wir von seinen Eigenschaften haben, nichts wuͤrklich, <hi rendition="#b">kann</hi> nichts wuͤrklich machen, was nicht in dem <hi rendition="#b">ewigen Wesen</hi> der Dinge gegruͤndet ist. Dieses Wesen kann er nicht aͤndern, er kann also auch nicht machen, daß meine Seele Begriffe empfaͤngt, die nicht in der Natur, in dem Wesen ihrer <hi rendition="#b">individuellen</hi> Denk-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [10/0010]
kannt machen, schon erwiesen? — und was ich billig haͤtte zuerst fragen sollen: giebt es denn wuͤrklich uns umgebende Genien uͤberhaupt? Kann ich eine Hypothese, (die Ahndungen) mit einer andern Hypothese (uns umgebende Geister) beweisen, und darf ich nicht an der ganzen Sache zweifeln, so lange ich keine andere, als solche Gruͤnde fuͤr sie habe? — —
Jch komme zum letzten Zufluchtsorte derer, welche an Ahndungen und Vorgefuͤhle des Zukuͤnftigen glauben. Die Gottheit, sagen sie, kann vermoͤge ihrer Allmacht neue Jdeen in uns erwecken; sie kann uns also auch, freilich auf eine unbegreifliche Art, zukuͤnftige Dinge bekannt machen und vorhersagen. Auch diesen Satz kann man nicht so geradezu annehmen. Man hat sich von jeher sehr schiefe und unrichtige Begriffe von der goͤttlichen Allmacht ertraͤumt, man hat sich sogar nicht gescheut zu sagen: daß Gott auch das Sonderbarste, das Widernatuͤrlichste, das, was gar nicht in der Natur der Dinge gegruͤndet ist, wuͤrklich machen koͤnne. Welch eine Gottheit! Gott macht nach den reinen Vernunftbegriffen, die wir von seinen Eigenschaften haben, nichts wuͤrklich, kann nichts wuͤrklich machen, was nicht in dem ewigen Wesen der Dinge gegruͤndet ist. Dieses Wesen kann er nicht aͤndern, er kann also auch nicht machen, daß meine Seele Begriffe empfaͤngt, die nicht in der Natur, in dem Wesen ihrer individuellen Denk-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 2. Berlin, 1787, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0502_1787/10>, abgerufen am 22.07.2024. |