Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
Aber es ist uns oft eben so unmöglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zurückscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nüancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre glücken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefühle Anderer, ähnliche Wirkungen in dem Jnnern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfüllt. Jch glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, überhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Jndividuum geht hiebei unwillkürlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefühle, und eine darauf gegründete individuelle Empfänglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernünftiger Wesen zu lesen. Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, können aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem gröbern, den
Aber es ist uns oft eben so unmoͤglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zuruͤckscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nuͤancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre gluͤcken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefuͤhle Anderer, aͤhnliche Wirkungen in dem Jnnern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfuͤllt. Jch glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, uͤberhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Jndividuum geht hiebei unwillkuͤrlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefuͤhle, und eine darauf gegruͤndete individuelle Empfaͤnglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernuͤnftiger Wesen zu lesen. Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, koͤnnen aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem groͤbern, den <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0042" n="40"/><lb/> Herzen mit dem unsrigen in ihrem Gesichte zu lesen <hi rendition="#b">glauben.</hi></p> <p>Aber es ist uns oft eben so unmoͤglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zuruͤckscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nuͤancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre gluͤcken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefuͤhle Anderer, aͤhnliche Wirkungen in dem Jnnern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfuͤllt.</p> <p>Jch glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, uͤberhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Jndividuum geht hiebei unwillkuͤrlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefuͤhle, und eine darauf gegruͤndete individuelle Empfaͤnglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernuͤnftiger Wesen zu lesen.</p> <p>Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, koͤnnen aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem groͤbern, den<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0042]
Herzen mit dem unsrigen in ihrem Gesichte zu lesen glauben.
Aber es ist uns oft eben so unmoͤglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zuruͤckscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nuͤancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre gluͤcken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefuͤhle Anderer, aͤhnliche Wirkungen in dem Jnnern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfuͤllt.
Jch glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, uͤberhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Jndividuum geht hiebei unwillkuͤrlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefuͤhle, und eine darauf gegruͤndete individuelle Empfaͤnglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernuͤnftiger Wesen zu lesen.
Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, koͤnnen aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem groͤbern, den
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/42>, abgerufen am 16.07.2024. |