Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787.
"Ein angesehener glaubwürdiger Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und plözlich sterben werde. Für ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht könne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befürchten müßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen. Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen völlig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, und wenn sie auch für jeden andern wie Rosen blühen." Es wird darauf ein Beispiel erzählt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, denTod eines vorübergehenden blühenden Fräuleins vermöge seines Ahndungsgefühls richtig vorausgesagt habe. Jch muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. Jn den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermögens nicht liegen, denn wie ist es möglich, daß die blühenden Wangen eines bald sterbenden Mädchens, die aber noch völlig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni-
»Ein angesehener glaubwuͤrdiger Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und ploͤzlich sterben werde. Fuͤr ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht koͤnne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befuͤrchten muͤßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen. Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen voͤllig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen bluͤhen.« Es wird darauf ein Beispiel erzaͤhlt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, denTod eines voruͤbergehenden bluͤhenden Fraͤuleins vermoͤge seines Ahndungsgefuͤhls richtig vorausgesagt habe. Jch muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. Jn den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermoͤgens nicht liegen, denn wie ist es moͤglich, daß die bluͤhenden Wangen eines bald sterbenden Maͤdchens, die aber noch voͤllig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0016" n="14"/><lb/> gewiß kein einziger meiner Leser wuͤnscht, steht im zweiten Stuͤck des zweiten Bandes der Erfahrungsseelenkunde S. 16.</p> <p>»Ein angesehener <hi rendition="#b">glaubwuͤrdiger</hi> Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und ploͤzlich sterben werde. Fuͤr ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht koͤnne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befuͤrchten muͤßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen.</p> <p>Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen voͤllig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, <hi rendition="#b">und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen <choice><corr>bluͤhen.«</corr><sic>bluͤhen.</sic></choice></hi></p> <p>Es wird darauf ein Beispiel erzaͤhlt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, denTod eines voruͤbergehenden bluͤhenden Fraͤuleins vermoͤge seines Ahndungsgefuͤhls richtig vorausgesagt habe.</p> <p>Jch muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. Jn den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermoͤgens nicht liegen, denn wie ist es <hi rendition="#b">moͤglich,</hi> daß die bluͤhenden Wangen eines bald sterbenden Maͤdchens, die aber noch voͤllig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0016]
gewiß kein einziger meiner Leser wuͤnscht, steht im zweiten Stuͤck des zweiten Bandes der Erfahrungsseelenkunde S. 16.
»Ein angesehener glaubwuͤrdiger Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und ploͤzlich sterben werde. Fuͤr ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht koͤnne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befuͤrchten muͤßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen.
Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen voͤllig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, und wenn sie auch fuͤr jeden andern wie Rosen bluͤhen.«
Es wird darauf ein Beispiel erzaͤhlt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, denTod eines voruͤbergehenden bluͤhenden Fraͤuleins vermoͤge seines Ahndungsgefuͤhls richtig vorausgesagt habe.
Jch muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. Jn den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermoͤgens nicht liegen, denn wie ist es moͤglich, daß die bluͤhenden Wangen eines bald sterbenden Maͤdchens, die aber noch voͤllig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 5, St. 1. Berlin, 1787, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0501_1787/16>, abgerufen am 16.07.2024. |