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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.

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ihrer Einbildung schuf. So klagte sie unaufhörlich über Schicksal, Noth, Dürftigkeit; redete immer von Umsturz ihres Hauses, von tödtenden Kummer, von Verzweiflung; wo sie freilich zuweilen nicht ganz Unrecht hatte, aber doch Gegenwart und Zukunft im schwärzesten Gemälde betrachtete. Wie viele Zeit brachte ich vergebens zu, wie viele Vorstellungen, wie viele Bitten waren fruchtlos, ihr die Sache in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, sie von dem Ungrunde ihrer Klage zu überzeugen, sie zurechte zu weisen? Sich dem Schmerzgefühle überlassend antwortete sie mir nur mit denen Worten: "Wie? Du verschwörst Dich auch gegen mich, gegen Deine Mutter? mich zu martern, mich zu tödten? Geh' hin zu meinen Feinden, und laß mich, laß mich sterben." Von seiner ganzen geäußerten Macht dahingerissen, war sie gegen alles Resonnement gefühllos und mistrauisch.

Und gewiß eben dies auszeichnende karakteristische Merkmal der Mutter pflanzte sich auf mich und auf uns alle, mehr oder weniger, fort: auf Dich am wenigsten; bei Dir waren noch nicht Gründe und Anläße genug da, daß sich diese eben so unglückliche als schrankenlose Leidenschaft dazumal in eben der Stärke, als nachher, äußern sollte; das Leichtsinnige Deines Karakters vermehrte noch die Schwierigkeit, dieselbe Leidenschaft bei Dir zu werden. Du weißt doch, daß ich und


ihrer Einbildung schuf. So klagte sie unaufhoͤrlich uͤber Schicksal, Noth, Duͤrftigkeit; redete immer von Umsturz ihres Hauses, von toͤdtenden Kummer, von Verzweiflung; wo sie freilich zuweilen nicht ganz Unrecht hatte, aber doch Gegenwart und Zukunft im schwaͤrzesten Gemaͤlde betrachtete. Wie viele Zeit brachte ich vergebens zu, wie viele Vorstellungen, wie viele Bitten waren fruchtlos, ihr die Sache in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, sie von dem Ungrunde ihrer Klage zu uͤberzeugen, sie zurechte zu weisen? Sich dem Schmerzgefuͤhle uͤberlassend antwortete sie mir nur mit denen Worten: »Wie? Du verschwoͤrst Dich auch gegen mich, gegen Deine Mutter? mich zu martern, mich zu toͤdten? Geh' hin zu meinen Feinden, und laß mich, laß mich sterben.« Von seiner ganzen geaͤußerten Macht dahingerissen, war sie gegen alles Resonnement gefuͤhllos und mistrauisch.

Und gewiß eben dies auszeichnende karakteristische Merkmal der Mutter pflanzte sich auf mich und auf uns alle, mehr oder weniger, fort: auf Dich am wenigsten; bei Dir waren noch nicht Gruͤnde und Anlaͤße genug da, daß sich diese eben so ungluͤckliche als schrankenlose Leidenschaft dazumal in eben der Staͤrke, als nachher, aͤußern sollte; das Leichtsinnige Deines Karakters vermehrte noch die Schwierigkeit, dieselbe Leidenschaft bei Dir zu werden. Du weißt doch, daß ich und

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[92/0092] ihrer Einbildung schuf. So klagte sie unaufhoͤrlich uͤber Schicksal, Noth, Duͤrftigkeit; redete immer von Umsturz ihres Hauses, von toͤdtenden Kummer, von Verzweiflung; wo sie freilich zuweilen nicht ganz Unrecht hatte, aber doch Gegenwart und Zukunft im schwaͤrzesten Gemaͤlde betrachtete. Wie viele Zeit brachte ich vergebens zu, wie viele Vorstellungen, wie viele Bitten waren fruchtlos, ihr die Sache in ihrer wahren Gestalt zu zeigen, sie von dem Ungrunde ihrer Klage zu uͤberzeugen, sie zurechte zu weisen? Sich dem Schmerzgefuͤhle uͤberlassend antwortete sie mir nur mit denen Worten: »Wie? Du verschwoͤrst Dich auch gegen mich, gegen Deine Mutter? mich zu martern, mich zu toͤdten? Geh' hin zu meinen Feinden, und laß mich, laß mich sterben.« Von seiner ganzen geaͤußerten Macht dahingerissen, war sie gegen alles Resonnement gefuͤhllos und mistrauisch. Und gewiß eben dies auszeichnende karakteristische Merkmal der Mutter pflanzte sich auf mich und auf uns alle, mehr oder weniger, fort: auf Dich am wenigsten; bei Dir waren noch nicht Gruͤnde und Anlaͤße genug da, daß sich diese eben so ungluͤckliche als schrankenlose Leidenschaft dazumal in eben der Staͤrke, als nachher, aͤußern sollte; das Leichtsinnige Deines Karakters vermehrte noch die Schwierigkeit, dieselbe Leidenschaft bei Dir zu werden. Du weißt doch, daß ich und

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/92>, abgerufen am 12.05.2024.