Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
Jn Hinsicht auf diese kindische Eigenheit hatte ich doch noch was Jndividuelles: Du weist, lieber Bruder, unsre Mutter hatte auch die Gewohnheit, ein Vergnügen darin zu suchen, wenn sie selbst Mitleiden in dem Gefühle eines Unrechts mit sich haben konnte; und dieses zu haben, schuf sie sich Unrecht, wo keines war, und machte unschuldige, gute, scherzende Handlungen zu boshaften Beleidigungen, die man nur verübte, um sie zu betrüben und zu schikaniren; einen Funken betrachtete sie schon als eine allgemeine verheerende Feuersbrunst; und Klage übers Unrechtleiden, mörderische Vorwürfe, die bittersten Thränengüsse und herzbeklemmendes Schluchzen waren ihr so süsse, daß sie dann nur glücklich zu seyn schien. Versunken in den wesentvollsten Strom ihrer Empfindung fühlte sie die beruhigendeste Selbstzufriedenheit. Nur solche Empfindungen, begleitet mit den heftigsten Ausbrüchen von Thränen, verzehrten ihren Kummer; nur diese versüßten ihre Leiden; nur diese entladeten ihr Herz von seiner Bürde; Leiden war der Trost ihrer Leiden. Aber, nicht nur das Unrechtleiden war der Vorwurf dieser Leidenschaft, sondern auch jeder Anschein von Unglück, den sie gleich zur Ruin ihres Hauses in
Jn Hinsicht auf diese kindische Eigenheit hatte ich doch noch was Jndividuelles: Du weist, lieber Bruder, unsre Mutter hatte auch die Gewohnheit, ein Vergnuͤgen darin zu suchen, wenn sie selbst Mitleiden in dem Gefuͤhle eines Unrechts mit sich haben konnte; und dieses zu haben, schuf sie sich Unrecht, wo keines war, und machte unschuldige, gute, scherzende Handlungen zu boshaften Beleidigungen, die man nur veruͤbte, um sie zu betruͤben und zu schikaniren; einen Funken betrachtete sie schon als eine allgemeine verheerende Feuersbrunst; und Klage uͤbers Unrechtleiden, moͤrderische Vorwuͤrfe, die bittersten Thraͤnenguͤsse und herzbeklemmendes Schluchzen waren ihr so suͤsse, daß sie dann nur gluͤcklich zu seyn schien. Versunken in den wesentvollsten Strom ihrer Empfindung fuͤhlte sie die beruhigendeste Selbstzufriedenheit. Nur solche Empfindungen, begleitet mit den heftigsten Ausbruͤchen von Thraͤnen, verzehrten ihren Kummer; nur diese versuͤßten ihre Leiden; nur diese entladeten ihr Herz von seiner Buͤrde; Leiden war der Trost ihrer Leiden. Aber, nicht nur das Unrechtleiden war der Vorwurf dieser Leidenschaft, sondern auch jeder Anschein von Ungluͤck, den sie gleich zur Ruin ihres Hauses in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0091" n="91"/><lb/> genblick sieht man das Maͤulchen haͤngen, den andern schon wieder lachen; wie ein guͤnstiger Umstand die trotzende Mine wieder aufheiterte, oder das beleidigte Koͤpfchen befriedigt ist. </p> <p>Jn Hinsicht auf diese kindische Eigenheit hatte ich doch noch was Jndividuelles: Du weist, lieber Bruder, unsre Mutter hatte auch die Gewohnheit, ein Vergnuͤgen darin zu suchen, wenn sie selbst Mitleiden in dem Gefuͤhle eines Unrechts mit sich haben konnte; und dieses zu haben, schuf sie sich Unrecht, wo keines war, und machte unschuldige, gute, scherzende Handlungen zu boshaften Beleidigungen, die man nur veruͤbte, um sie zu betruͤben und zu schikaniren; einen Funken betrachtete sie schon als eine allgemeine verheerende Feuersbrunst; und Klage uͤbers Unrechtleiden, moͤrderische Vorwuͤrfe, die bittersten Thraͤnenguͤsse und herzbeklemmendes Schluchzen waren ihr so suͤsse, daß sie dann nur gluͤcklich zu seyn schien. </p> <p>Versunken in den wesentvollsten Strom ihrer Empfindung fuͤhlte sie die beruhigendeste Selbstzufriedenheit. Nur solche Empfindungen, begleitet mit den heftigsten Ausbruͤchen von Thraͤnen, verzehrten ihren Kummer; nur diese versuͤßten ihre Leiden; nur diese entladeten ihr Herz von seiner Buͤrde; Leiden war der Trost ihrer Leiden. Aber, nicht nur das Unrechtleiden war der Vorwurf dieser Leidenschaft, sondern auch jeder Anschein von Ungluͤck, den sie gleich zur Ruin ihres Hauses in<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [91/0091]
genblick sieht man das Maͤulchen haͤngen, den andern schon wieder lachen; wie ein guͤnstiger Umstand die trotzende Mine wieder aufheiterte, oder das beleidigte Koͤpfchen befriedigt ist.
Jn Hinsicht auf diese kindische Eigenheit hatte ich doch noch was Jndividuelles: Du weist, lieber Bruder, unsre Mutter hatte auch die Gewohnheit, ein Vergnuͤgen darin zu suchen, wenn sie selbst Mitleiden in dem Gefuͤhle eines Unrechts mit sich haben konnte; und dieses zu haben, schuf sie sich Unrecht, wo keines war, und machte unschuldige, gute, scherzende Handlungen zu boshaften Beleidigungen, die man nur veruͤbte, um sie zu betruͤben und zu schikaniren; einen Funken betrachtete sie schon als eine allgemeine verheerende Feuersbrunst; und Klage uͤbers Unrechtleiden, moͤrderische Vorwuͤrfe, die bittersten Thraͤnenguͤsse und herzbeklemmendes Schluchzen waren ihr so suͤsse, daß sie dann nur gluͤcklich zu seyn schien.
Versunken in den wesentvollsten Strom ihrer Empfindung fuͤhlte sie die beruhigendeste Selbstzufriedenheit. Nur solche Empfindungen, begleitet mit den heftigsten Ausbruͤchen von Thraͤnen, verzehrten ihren Kummer; nur diese versuͤßten ihre Leiden; nur diese entladeten ihr Herz von seiner Buͤrde; Leiden war der Trost ihrer Leiden. Aber, nicht nur das Unrechtleiden war der Vorwurf dieser Leidenschaft, sondern auch jeder Anschein von Ungluͤck, den sie gleich zur Ruin ihres Hauses in
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