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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.

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Oft aber ist der Traum etwas ganz anderes. Die seltsamste Zusammensetzung grotesker Jdeen. Die bundschattigsten Bilder tanzen untereinander umher; und der Traum des vernünftigsten Mannes gleicht dem Wahnwitze. -- Wieder andere träumen die zusammenhängendsten Geschichten, aber nicht solche, die sie wirklich erlebt haben, sondern neue, die die Seele in dem Augenblicke erst zu erfinden scheint. Wir sehn im Traume unsere Wünsche erfüllt; wir fühlen die ängstlichste Besorgniß, vor einem zu erwartenden Uebel; wir fühlen die lebhafteste Freude, gerathen in die unangenehmste Verlegenheit; empfinden Zorn und Schmerz. Merkwürdig scheint es, daß sich sehr oft dunkele Gefühle des gegenwärtigen körperlichen Unvermögens in unsere Träume mischen; z.B. ein nothwendiges Geschäft ruft uns ab, und wir können mit unsern Anzuge nicht fertig werden; -- oder wir gerathen in Streit, selbst in Schlägerei, aber wir fühlen mit Unwillen, daß unsere Arme keine Kraft und unsere Schläge also von der Luft aufgefangen werden und gar keinen Nachdruck haben. --

Dieß Unvermögen merken wir nicht in Dingen, die unsern Geist betreffen. -- Der Furchtsame hält hier vor großen Versammlungen Reden voll Feuer und Leben; wir reden fremde Sprachen, die wir kaum lesen können, und wachend nur zu reden wünschen, mit großer Fertigkeit; -- wir halten lange zusammenhängende Gespräche, deren Jnhalt


Oft aber ist der Traum etwas ganz anderes. Die seltsamste Zusammensetzung grotesker Jdeen. Die bundschattigsten Bilder tanzen untereinander umher; und der Traum des vernuͤnftigsten Mannes gleicht dem Wahnwitze. — Wieder andere traͤumen die zusammenhaͤngendsten Geschichten, aber nicht solche, die sie wirklich erlebt haben, sondern neue, die die Seele in dem Augenblicke erst zu erfinden scheint. Wir sehn im Traume unsere Wuͤnsche erfuͤllt; wir fuͤhlen die aͤngstlichste Besorgniß, vor einem zu erwartenden Uebel; wir fuͤhlen die lebhafteste Freude, gerathen in die unangenehmste Verlegenheit; empfinden Zorn und Schmerz. Merkwuͤrdig scheint es, daß sich sehr oft dunkele Gefuͤhle des gegenwaͤrtigen koͤrperlichen Unvermoͤgens in unsere Traͤume mischen; z.B. ein nothwendiges Geschaͤft ruft uns ab, und wir koͤnnen mit unsern Anzuge nicht fertig werden; — oder wir gerathen in Streit, selbst in Schlaͤgerei, aber wir fuͤhlen mit Unwillen, daß unsere Arme keine Kraft und unsere Schlaͤge also von der Luft aufgefangen werden und gar keinen Nachdruck haben. —

Dieß Unvermoͤgen merken wir nicht in Dingen, die unsern Geist betreffen. — Der Furchtsame haͤlt hier vor großen Versammlungen Reden voll Feuer und Leben; wir reden fremde Sprachen, die wir kaum lesen koͤnnen, und wachend nur zu reden wuͤnschen, mit großer Fertigkeit; — wir halten lange zusammenhaͤngende Gespraͤche, deren Jnhalt

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[83/0083] Oft aber ist der Traum etwas ganz anderes. Die seltsamste Zusammensetzung grotesker Jdeen. Die bundschattigsten Bilder tanzen untereinander umher; und der Traum des vernuͤnftigsten Mannes gleicht dem Wahnwitze. — Wieder andere traͤumen die zusammenhaͤngendsten Geschichten, aber nicht solche, die sie wirklich erlebt haben, sondern neue, die die Seele in dem Augenblicke erst zu erfinden scheint. Wir sehn im Traume unsere Wuͤnsche erfuͤllt; wir fuͤhlen die aͤngstlichste Besorgniß, vor einem zu erwartenden Uebel; wir fuͤhlen die lebhafteste Freude, gerathen in die unangenehmste Verlegenheit; empfinden Zorn und Schmerz. Merkwuͤrdig scheint es, daß sich sehr oft dunkele Gefuͤhle des gegenwaͤrtigen koͤrperlichen Unvermoͤgens in unsere Traͤume mischen; z.B. ein nothwendiges Geschaͤft ruft uns ab, und wir koͤnnen mit unsern Anzuge nicht fertig werden; — oder wir gerathen in Streit, selbst in Schlaͤgerei, aber wir fuͤhlen mit Unwillen, daß unsere Arme keine Kraft und unsere Schlaͤge also von der Luft aufgefangen werden und gar keinen Nachdruck haben. — Dieß Unvermoͤgen merken wir nicht in Dingen, die unsern Geist betreffen. — Der Furchtsame haͤlt hier vor großen Versammlungen Reden voll Feuer und Leben; wir reden fremde Sprachen, die wir kaum lesen koͤnnen, und wachend nur zu reden wuͤnschen, mit großer Fertigkeit; — wir halten lange zusammenhaͤngende Gespraͤche, deren Jnhalt

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/83>, abgerufen am 13.05.2024.