Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.Alle diese Betrachtungen und vielleicht noch das Jndividuelle zusammengenommen, kann ich mir schon begreiflich machen, wie sich Zweifel an eigener Existenz mit dem Sturz ins Wasser und einer sehr nahen schon betäubenden Todesgefahr als Gedankenfolge verbinden könne; und wie die zuverlässigste sowohl als die natürlichste Auflösung dieser Zweifel die Veränderung des Wohnortes und also die Veränderung der alten gewohnten, und immer dieselbe Jdee erweckenden Gegenstände sei. Da siehet man denn neue und immer neue Gegenstände, die eine ganz andere Modifikation in der Vorstellung und neue Eindrücke hervorbringen müssen; mit diesen kömmt die Ueberzeugung von seinem irrigen Wahne und der vorigen Täuschung; der getäuschte beginnt nun seinem Zustande näher nachzudenken, Grund, Wirkung und Wirklichkeit unbefangner nachzuforschen, und sieht das Elysium noch weit von sich entfernt. Todesahndung. Ein junger Mensch, eingezogen und sittsam, doch munter, bestimmte das Jahr, den Tag, die Stunde seines Todes, ohne auch nur wahrscheinliche vorhergehende Gründe. Könnte man diese Vorhersagung nicht aus folgenden Gründen erklären? Sein Bruder starb; er fühlte den Verlust; er ging ihm sehr nahe, und lag schwerdrückend auf sei- Alle diese Betrachtungen und vielleicht noch das Jndividuelle zusammengenommen, kann ich mir schon begreiflich machen, wie sich Zweifel an eigener Existenz mit dem Sturz ins Wasser und einer sehr nahen schon betaͤubenden Todesgefahr als Gedankenfolge verbinden koͤnne; und wie die zuverlaͤssigste sowohl als die natuͤrlichste Aufloͤsung dieser Zweifel die Veraͤnderung des Wohnortes und also die Veraͤnderung der alten gewohnten, und immer dieselbe Jdee erweckenden Gegenstaͤnde sei. Da siehet man denn neue und immer neue Gegenstaͤnde, die eine ganz andere Modifikation in der Vorstellung und neue Eindruͤcke hervorbringen muͤssen; mit diesen koͤmmt die Ueberzeugung von seinem irrigen Wahne und der vorigen Taͤuschung; der getaͤuschte beginnt nun seinem Zustande naͤher nachzudenken, Grund, Wirkung und Wirklichkeit unbefangner nachzuforschen, und sieht das Elysium noch weit von sich entfernt. Todesahndung. Ein junger Mensch, eingezogen und sittsam, doch munter, bestimmte das Jahr, den Tag, die Stunde seines Todes, ohne auch nur wahrscheinliche vorhergehende Gruͤnde. Koͤnnte man diese Vorhersagung nicht aus folgenden Gruͤnden erklaͤren? Sein Bruder starb; er fuͤhlte den Verlust; er ging ihm sehr nahe, und lag schwerdruͤckend auf sei- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0123" n="123"/><lb/> <p>Alle diese Betrachtungen und vielleicht noch das Jndividuelle zusammengenommen, kann ich mir schon begreiflich machen, wie sich Zweifel an eigener Existenz mit dem Sturz ins Wasser und einer sehr nahen schon betaͤubenden Todesgefahr als Gedankenfolge verbinden koͤnne; und wie die zuverlaͤssigste sowohl als die natuͤrlichste Aufloͤsung dieser Zweifel die Veraͤnderung des Wohnortes und also die Veraͤnderung der alten gewohnten, und immer dieselbe Jdee erweckenden Gegenstaͤnde sei. Da siehet man denn neue und immer neue Gegenstaͤnde, die eine ganz andere Modifikation in der Vorstellung und neue Eindruͤcke hervorbringen muͤssen; mit diesen koͤmmt die Ueberzeugung von seinem irrigen Wahne und der vorigen Taͤuschung; der getaͤuschte beginnt nun seinem Zustande naͤher nachzudenken, Grund, Wirkung und Wirklichkeit unbefangner nachzuforschen, und sieht das Elysium noch weit von sich entfernt. </p> <div n="3"> <head> Todesahndung. </head><lb/> <p>Ein junger Mensch, eingezogen und sittsam, doch munter, bestimmte das Jahr, den Tag, die Stunde seines Todes, ohne auch nur wahrscheinliche vorhergehende Gruͤnde. Koͤnnte man diese Vorhersagung nicht aus folgenden Gruͤnden erklaͤren? </p> <p>Sein Bruder starb; er fuͤhlte den Verlust; er ging ihm sehr nahe, und lag schwerdruͤckend auf sei-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [123/0123]
Alle diese Betrachtungen und vielleicht noch das Jndividuelle zusammengenommen, kann ich mir schon begreiflich machen, wie sich Zweifel an eigener Existenz mit dem Sturz ins Wasser und einer sehr nahen schon betaͤubenden Todesgefahr als Gedankenfolge verbinden koͤnne; und wie die zuverlaͤssigste sowohl als die natuͤrlichste Aufloͤsung dieser Zweifel die Veraͤnderung des Wohnortes und also die Veraͤnderung der alten gewohnten, und immer dieselbe Jdee erweckenden Gegenstaͤnde sei. Da siehet man denn neue und immer neue Gegenstaͤnde, die eine ganz andere Modifikation in der Vorstellung und neue Eindruͤcke hervorbringen muͤssen; mit diesen koͤmmt die Ueberzeugung von seinem irrigen Wahne und der vorigen Taͤuschung; der getaͤuschte beginnt nun seinem Zustande naͤher nachzudenken, Grund, Wirkung und Wirklichkeit unbefangner nachzuforschen, und sieht das Elysium noch weit von sich entfernt.
Todesahndung.
Ein junger Mensch, eingezogen und sittsam, doch munter, bestimmte das Jahr, den Tag, die Stunde seines Todes, ohne auch nur wahrscheinliche vorhergehende Gruͤnde. Koͤnnte man diese Vorhersagung nicht aus folgenden Gruͤnden erklaͤren?
Sein Bruder starb; er fuͤhlte den Verlust; er ging ihm sehr nahe, und lag schwerdruͤckend auf sei-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/123>, abgerufen am 16.02.2025. |