Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786.
ich bin war, so würde sich bin und war einander aufheben. -- Die Gegenwart und die noch nicht völlige Vergangenheit, oder der eigentliche Uebergang des Vergangnen ins Gegenwärtige muß immer bestimmt und fest bleiben, weil hiervon unsre Vorstellung von dem Unterschied des Vergangnen und Gegenwärtigen, und im Grunde unser ganzes Denken abhängt. Das völlig vergangne Seyn hingegen, welches gleichsam aus der Reihe und Verkettung der wirklichen Dinge herausgehoben, nur noch in der Einbildungskraft statt findet, kann schon eher mit dem gegenwärtigen, wirklichen Daseyn zusammengedacht werden, ohne daß eins das andre aufhebt; ich kann nicht sagen: ich bin war -- aber wohl: ich bin gewesen. Der Engländer sagt: ich habe gewesen -- er denkt sein zusammengenommenes durchlebtes seyn mehr aus sich heraus, und rechnet es zu dem, was er hat, was er besitzt, so wie wir auch sagen: ich habe gelebt, und nicht ich bin gelebt -- wir rechnen unser zusammengenommenes vergangnes Leben, das von Zeit zu Zeit Momentweise von uns ausgegangen, und am Ende ganz
ich bin war, so wuͤrde sich bin und war einander aufheben. — Die Gegenwart und die noch nicht voͤllige Vergangenheit, oder der eigentliche Uebergang des Vergangnen ins Gegenwaͤrtige muß immer bestimmt und fest bleiben, weil hiervon unsre Vorstellung von dem Unterschied des Vergangnen und Gegenwaͤrtigen, und im Grunde unser ganzes Denken abhaͤngt. Das voͤllig vergangne Seyn hingegen, welches gleichsam aus der Reihe und Verkettung der wirklichen Dinge herausgehoben, nur noch in der Einbildungskraft statt findet, kann schon eher mit dem gegenwaͤrtigen, wirklichen Daseyn zusammengedacht werden, ohne daß eins das andre aufhebt; ich kann nicht sagen: ich bin war — aber wohl: ich bin gewesen. Der Englaͤnder sagt: ich habe gewesen — er denkt sein zusammengenommenes durchlebtes seyn mehr aus sich heraus, und rechnet es zu dem, was er hat, was er besitzt, so wie wir auch sagen: ich habe gelebt, und nicht ich bin gelebt — wir rechnen unser zusammengenommenes vergangnes Leben, das von Zeit zu Zeit Momentweise von uns ausgegangen, und am Ende ganz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0112" n="112"/><lb/> tiges Selbstgefuͤhl nothwendig zusammennehmen muͤssen: wir koͤnnen nicht sagen: <hi rendition="#b">ich gewesen,</hi> sondern sehen uns genoͤthiget zu sagen: <hi rendition="#b">ich bin gewesen</hi> — wenn man sagen wollte: </p> <p> <hi rendition="#b"> ich bin war,</hi> </p> <p>so wuͤrde sich <hi rendition="#b">bin</hi> und <hi rendition="#b">war</hi> einander aufheben. — </p> <p>Die Gegenwart und die noch nicht voͤllige Vergangenheit, oder der <hi rendition="#b">eigentliche Uebergang</hi> des Vergangnen ins Gegenwaͤrtige muß immer <hi rendition="#b">bestimmt</hi> und <hi rendition="#b">fest</hi> bleiben, weil hiervon unsre Vorstellung von dem Unterschied des Vergangnen und Gegenwaͤrtigen, und im Grunde unser ganzes Denken abhaͤngt. Das voͤllig vergangne Seyn hingegen, welches gleichsam aus der Reihe und Verkettung der wirklichen Dinge herausgehoben, nur noch in der Einbildungskraft statt findet, kann schon eher mit dem gegenwaͤrtigen, wirklichen Daseyn zusammengedacht werden, ohne daß eins das andre aufhebt; ich kann nicht sagen: </p> <p><hi rendition="#b">ich bin war</hi> — aber wohl: </p> <p> <hi rendition="#b">ich bin gewesen.</hi> </p> <p>Der Englaͤnder sagt: <hi rendition="#b">ich habe gewesen</hi> — er denkt sein zusammengenommenes durchlebtes <hi rendition="#b">seyn</hi> mehr aus sich heraus, und rechnet es zu dem, was er <hi rendition="#b">hat,</hi> was er <hi rendition="#b">besitzt,</hi> so wie wir auch sagen: <hi rendition="#b">ich habe gelebt,</hi> und nicht <hi rendition="#b">ich bin gelebt</hi> — wir rechnen unser zusammengenommenes vergangnes <hi rendition="#b">Leben,</hi> das von Zeit zu Zeit Momentweise von uns ausgegangen, und am Ende ganz<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [112/0112]
tiges Selbstgefuͤhl nothwendig zusammennehmen muͤssen: wir koͤnnen nicht sagen: ich gewesen, sondern sehen uns genoͤthiget zu sagen: ich bin gewesen — wenn man sagen wollte:
ich bin war,
so wuͤrde sich bin und war einander aufheben. —
Die Gegenwart und die noch nicht voͤllige Vergangenheit, oder der eigentliche Uebergang des Vergangnen ins Gegenwaͤrtige muß immer bestimmt und fest bleiben, weil hiervon unsre Vorstellung von dem Unterschied des Vergangnen und Gegenwaͤrtigen, und im Grunde unser ganzes Denken abhaͤngt. Das voͤllig vergangne Seyn hingegen, welches gleichsam aus der Reihe und Verkettung der wirklichen Dinge herausgehoben, nur noch in der Einbildungskraft statt findet, kann schon eher mit dem gegenwaͤrtigen, wirklichen Daseyn zusammengedacht werden, ohne daß eins das andre aufhebt; ich kann nicht sagen:
ich bin war — aber wohl:
ich bin gewesen.
Der Englaͤnder sagt: ich habe gewesen — er denkt sein zusammengenommenes durchlebtes seyn mehr aus sich heraus, und rechnet es zu dem, was er hat, was er besitzt, so wie wir auch sagen: ich habe gelebt, und nicht ich bin gelebt — wir rechnen unser zusammengenommenes vergangnes Leben, das von Zeit zu Zeit Momentweise von uns ausgegangen, und am Ende ganz
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 3. Berlin, 1786, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0403_1786/112>, abgerufen am 16.02.2025. |