Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786.
Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen können, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen müssen -- dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Jnstinktmäßige -- daß wir irren können, ist daher einer unser edelsten Vorzüge -- es ist uns zwar unmöglich, nach dem Jrrthum zu streben -- aber es ist uns möglich, demohngeachtet auf den Jrrthum zu gerathen -- und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind -- dieß giebt unsrer Denkkraft Selbstthätigkeit -- sie muß ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben -- aber sie muß sie nicht ihrer Natur nach
Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen koͤnnen, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen muͤssen — dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Jnstinktmaͤßige — daß wir irren koͤnnen, ist daher einer unser edelsten Vorzuͤge — es ist uns zwar unmoͤglich, nach dem Jrrthum zu streben — aber es ist uns moͤglich, demohngeachtet auf den Jrrthum zu gerathen — und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind — dieß giebt unsrer Denkkraft Selbstthaͤtigkeit — sie muß ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben — aber sie muß sie nicht ihrer Natur nach <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0018" n="18"/><lb/> zufaͤlliger Weise <hi rendition="#b">finden</hi> — und darin besteht das Wesen, die <hi rendition="#b">ewige Tendenz</hi> unsrer Denkkraft — den ganzen Umfang unsrer Jdeen auf irgend einen Mittelpunkt zu beziehen, worin sie alle, wie die Radien eines Zirkels sich vereinigen — diesen Mittelpunkt ausfuͤndig zu machen, dahin ist das Streben aller denkenden Koͤpfe in jedem Zeitalter gegangen. — Es ist das Wesen unsrer Seele, so wie es zum Wesen der Spinnen gehoͤrt, sich zu dem Mittelpunkte ihres Gewebes zu machen. — Diese Tendenz nach Wahrheit, nach Beziehung und Ordnung in unsern Gedanken und Vorstellungen ist unser <hi rendition="#b">Jnstinkt,</hi> es ist ein Bestreben, wozu wir weiter kein Motiv haben, als die Natur unsres Wesens. </p> <p>Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen <hi rendition="#b">koͤnnen,</hi> und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen <hi rendition="#b">muͤssen</hi> — dieß giebt unserm Denken <hi rendition="#b">Freiheit,</hi> und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Jnstinktmaͤßige — daß wir irren <hi rendition="#b">koͤnnen,</hi> ist daher einer unser edelsten Vorzuͤge — es ist uns zwar unmoͤglich, nach dem Jrrthum zu streben — aber es ist uns moͤglich, demohngeachtet auf den Jrrthum zu gerathen — und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind — dieß giebt unsrer Denkkraft <hi rendition="#b">Selbstthaͤtigkeit</hi> — sie <hi rendition="#b">muß</hi> ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben — aber sie <hi rendition="#b">muß</hi> sie nicht ihrer Natur <choice><corr>nach</corr><sic>auch</sic></choice><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [18/0018]
zufaͤlliger Weise finden — und darin besteht das Wesen, die ewige Tendenz unsrer Denkkraft — den ganzen Umfang unsrer Jdeen auf irgend einen Mittelpunkt zu beziehen, worin sie alle, wie die Radien eines Zirkels sich vereinigen — diesen Mittelpunkt ausfuͤndig zu machen, dahin ist das Streben aller denkenden Koͤpfe in jedem Zeitalter gegangen. — Es ist das Wesen unsrer Seele, so wie es zum Wesen der Spinnen gehoͤrt, sich zu dem Mittelpunkte ihres Gewebes zu machen. — Diese Tendenz nach Wahrheit, nach Beziehung und Ordnung in unsern Gedanken und Vorstellungen ist unser Jnstinkt, es ist ein Bestreben, wozu wir weiter kein Motiv haben, als die Natur unsres Wesens.
Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen koͤnnen, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen muͤssen — dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Jnstinktmaͤßige — daß wir irren koͤnnen, ist daher einer unser edelsten Vorzuͤge — es ist uns zwar unmoͤglich, nach dem Jrrthum zu streben — aber es ist uns moͤglich, demohngeachtet auf den Jrrthum zu gerathen — und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind — dieß giebt unsrer Denkkraft Selbstthaͤtigkeit — sie muß ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben — aber sie muß sie nicht ihrer Natur nach
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 4, St. 2. Berlin, 1786, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0402_1786/18>, abgerufen am 17.02.2025. |