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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

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Einen ähnlichen Streich spielte die Einbildungskraft einem bis dahin an Leib und Seel gesunden siebzehnjährigen Mädchen. Jhr lebender Bruder erscheint ihr im Traume mit dem Zuruf: bereite dich, du mußt jetzt sterben! -- Jndem wacht sie auf, wird durch diese Täuschung aufs heftigste erschüttert und betäubt, wirft sich betend zur Erde nieder, um sich zu ihrem nahen Ende vorzubereiten. Die durch ihr Klaggeschrey aufgeschreckten Angehörigen suchen sie zu beruhigen, den vermeinten nahen Tod ihr auszureden, allein vergebens; sie können sie anfänglich nicht einmal bewegen, von der Erde aufzustehen, bis es endlich, einigen entfernt wohnenden nahen Anverwandten, die hinzugerufen werden musten, gelingt, sie wieder zu sich selbst zu bringen. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl, und gedenkt erst die Freuden dieses Lebens noch in vollen Zügen zu geniessen. Ein neuer Beweis, daß weibliche Jmagination reitzbarer und ausschweifender als Männer-Jmagination ist!*)


*) Hierzu kann die Geschichte der Schwärmer, die bisher für die Psychologie noch zu wenig genutzt ist, sonderbare Beispiele in Menge liefern. Auf eins der auffallendsten muß ich doch aufmerksam machen: Ein 20jähriges Mädchen vermischte übertriebene Religions-Schwärmerey so sehr mit Verliebtheit, daß sie endlich aus bloßer Furcht, den Gegenstand ihrer Liebe vielleicht nicht zu erhalten, in völlige Verrückung des Verstandes fiel. Sie bekam Entzückungen, sprach oft und viel von der nahen Ankunft der Gerichte Gottes und des Bräutigams insonderheit. Mit diesem unterredete sie sich sehr freundschaftlich, und strebte oft darnach, denselben in ihre Arme zu schliessen. Erscheinungen, die sich leicht erklären lassen! -- Hierbei hatte sie noch den vernünftigen Gedanken, niemand, als ihr Busenfreund, könne ihr Arzt ihr Helfer seyn. Endlich verließ sie den himmlischen Bräutigam mit dem Troste: es sey Gottes Wille, sie solle ihren Geliebten heirathen. Von dem Augenblick an hörten alle Entzückungen auf, und der irdische Bräutigam blieb ihr einziger Arzt und Freund. -- Ohne Zweifel vermehrten die Angehörigen durch ihre Einfalt und Leichtgläubigkeit dieses Uebel, wobei, anfänglich wenigstens, Verstellung mit zum Grunde lag. Diese Geschichte mit bedeutenden Winken s. in Theobald, oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte von Hrn. Stilling. 1ster Band Leipzig 1784. 8.

Einen aͤhnlichen Streich spielte die Einbildungskraft einem bis dahin an Leib und Seel gesunden siebzehnjaͤhrigen Maͤdchen. Jhr lebender Bruder erscheint ihr im Traume mit dem Zuruf: bereite dich, du mußt jetzt sterben! — Jndem wacht sie auf, wird durch diese Taͤuschung aufs heftigste erschuͤttert und betaͤubt, wirft sich betend zur Erde nieder, um sich zu ihrem nahen Ende vorzubereiten. Die durch ihr Klaggeschrey aufgeschreckten Angehoͤrigen suchen sie zu beruhigen, den vermeinten nahen Tod ihr auszureden, allein vergebens; sie koͤnnen sie anfaͤnglich nicht einmal bewegen, von der Erde aufzustehen, bis es endlich, einigen entfernt wohnenden nahen Anverwandten, die hinzugerufen werden musten, gelingt, sie wieder zu sich selbst zu bringen. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl, und gedenkt erst die Freuden dieses Lebens noch in vollen Zuͤgen zu geniessen. Ein neuer Beweis, daß weibliche Jmagination reitzbarer und ausschweifender als Maͤnner-Jmagination ist!*)


*) Hierzu kann die Geschichte der Schwaͤrmer, die bisher fuͤr die Psychologie noch zu wenig genutzt ist, sonderbare Beispiele in Menge liefern. Auf eins der auffallendsten muß ich doch aufmerksam machen: Ein 20jaͤhriges Maͤdchen vermischte uͤbertriebene Religions-Schwaͤrmerey so sehr mit Verliebtheit, daß sie endlich aus bloßer Furcht, den Gegenstand ihrer Liebe vielleicht nicht zu erhalten, in voͤllige Verruͤckung des Verstandes fiel. Sie bekam Entzuͤckungen, sprach oft und viel von der nahen Ankunft der Gerichte Gottes und des Braͤutigams insonderheit. Mit diesem unterredete sie sich sehr freundschaftlich, und strebte oft darnach, denselben in ihre Arme zu schliessen. Erscheinungen, die sich leicht erklaͤren lassen! — Hierbei hatte sie noch den vernuͤnftigen Gedanken, niemand, als ihr Busenfreund, koͤnne ihr Arzt ihr Helfer seyn. Endlich verließ sie den himmlischen Braͤutigam mit dem Troste: es sey Gottes Wille, sie solle ihren Geliebten heirathen. Von dem Augenblick an hoͤrten alle Entzuͤckungen auf, und der irdische Braͤutigam blieb ihr einziger Arzt und Freund. — Ohne Zweifel vermehrten die Angehoͤrigen durch ihre Einfalt und Leichtglaͤubigkeit dieses Uebel, wobei, anfaͤnglich wenigstens, Verstellung mit zum Grunde lag. Diese Geschichte mit bedeutenden Winken s. in Theobald, oder die Schwaͤrmer. Eine wahre Geschichte von Hrn. Stilling. 1ster Band Leipzig 1784. 8.
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[79/0079] Einen aͤhnlichen Streich spielte die Einbildungskraft einem bis dahin an Leib und Seel gesunden siebzehnjaͤhrigen Maͤdchen. Jhr lebender Bruder erscheint ihr im Traume mit dem Zuruf: bereite dich, du mußt jetzt sterben! — Jndem wacht sie auf, wird durch diese Taͤuschung aufs heftigste erschuͤttert und betaͤubt, wirft sich betend zur Erde nieder, um sich zu ihrem nahen Ende vorzubereiten. Die durch ihr Klaggeschrey aufgeschreckten Angehoͤrigen suchen sie zu beruhigen, den vermeinten nahen Tod ihr auszureden, allein vergebens; sie koͤnnen sie anfaͤnglich nicht einmal bewegen, von der Erde aufzustehen, bis es endlich, einigen entfernt wohnenden nahen Anverwandten, die hinzugerufen werden musten, gelingt, sie wieder zu sich selbst zu bringen. Jetzt befindet sie sich vollkommen wohl, und gedenkt erst die Freuden dieses Lebens noch in vollen Zuͤgen zu geniessen. Ein neuer Beweis, daß weibliche Jmagination reitzbarer und ausschweifender als Maͤnner-Jmagination ist!*) *) Hierzu kann die Geschichte der Schwaͤrmer, die bisher fuͤr die Psychologie noch zu wenig genutzt ist, sonderbare Beispiele in Menge liefern. Auf eins der auffallendsten muß ich doch aufmerksam machen: Ein 20jaͤhriges Maͤdchen vermischte uͤbertriebene Religions-Schwaͤrmerey so sehr mit Verliebtheit, daß sie endlich aus bloßer Furcht, den Gegenstand ihrer Liebe vielleicht nicht zu erhalten, in voͤllige Verruͤckung des Verstandes fiel. Sie bekam Entzuͤckungen, sprach oft und viel von der nahen Ankunft der Gerichte Gottes und des Braͤutigams insonderheit. Mit diesem unterredete sie sich sehr freundschaftlich, und strebte oft darnach, denselben in ihre Arme zu schliessen. Erscheinungen, die sich leicht erklaͤren lassen! — Hierbei hatte sie noch den vernuͤnftigen Gedanken, niemand, als ihr Busenfreund, koͤnne ihr Arzt ihr Helfer seyn. Endlich verließ sie den himmlischen Braͤutigam mit dem Troste: es sey Gottes Wille, sie solle ihren Geliebten heirathen. Von dem Augenblick an hoͤrten alle Entzuͤckungen auf, und der irdische Braͤutigam blieb ihr einziger Arzt und Freund. — Ohne Zweifel vermehrten die Angehoͤrigen durch ihre Einfalt und Leichtglaͤubigkeit dieses Uebel, wobei, anfaͤnglich wenigstens, Verstellung mit zum Grunde lag. Diese Geschichte mit bedeutenden Winken s. in Theobald, oder die Schwaͤrmer. Eine wahre Geschichte von Hrn. Stilling. 1ster Band Leipzig 1784. 8.

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0303_1785/79>, abgerufen am 25.11.2024.