Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Zur Seelenzeichenkunde.
I. Beobachtung jugendlicher Charaktere.

Jch hatte einen Zögling, der etwas über eilf Jahre alt, schwerfällig und von stärkern Gliedern war, als sie in den Jahren zu seyn pflegen. Seine Seele war, und ist zum Theil noch, was man gemeine Seele zu nennen pflegt; außer einem ziemlich glücklichen Gedächtniß, zeichnet sie sich weder durch vorzügliche Anlagen, noch durch Reizbarkeit und Schnelligkeit der Empfindung aus. Er äußert wenig Theilnehmung an äußern Gegenständen; ich habe ihn öfters rührenden Scenen ohne sichtbare Theilnehmung beiwohnen, interessante Geschichten und Erzählungen mit anhören sehen, ohne daß er darüber besondere Mitfreude oder Traurigkeit geäußert hätte. Er bleibt in seiner behaglichen Ruhe, in der ihm allein wohl ist, und aus der ihn selten etwas, am wenigsten Musik herauszubringen im Stande ist. Dabei ist er ein äußerst gutmüthiger Knabe, wen er einmal liebt, an dem hängt er mit Leib und Seele; aber ein Druck der Hand, ein poßierliches Hinzudrängen zu ihm, ist alles, was man in dem Fall von ihm erwarten kann.


Zur Seelenzeichenkunde.
I. Beobachtung jugendlicher Charaktere.

Jch hatte einen Zoͤgling, der etwas uͤber eilf Jahre alt, schwerfaͤllig und von staͤrkern Gliedern war, als sie in den Jahren zu seyn pflegen. Seine Seele war, und ist zum Theil noch, was man gemeine Seele zu nennen pflegt; außer einem ziemlich gluͤcklichen Gedaͤchtniß, zeichnet sie sich weder durch vorzuͤgliche Anlagen, noch durch Reizbarkeit und Schnelligkeit der Empfindung aus. Er aͤußert wenig Theilnehmung an aͤußern Gegenstaͤnden; ich habe ihn oͤfters ruͤhrenden Scenen ohne sichtbare Theilnehmung beiwohnen, interessante Geschichten und Erzaͤhlungen mit anhoͤren sehen, ohne daß er daruͤber besondere Mitfreude oder Traurigkeit geaͤußert haͤtte. Er bleibt in seiner behaglichen Ruhe, in der ihm allein wohl ist, und aus der ihn selten etwas, am wenigsten Musik herauszubringen im Stande ist. Dabei ist er ein aͤußerst gutmuͤthiger Knabe, wen er einmal liebt, an dem haͤngt er mit Leib und Seele; aber ein Druck der Hand, ein poßierliches Hinzudraͤngen zu ihm, ist alles, was man in dem Fall von ihm erwarten kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0093" n="93"/><lb/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Zur Seelenzeichenkunde.</head><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#aq">I</hi>.             Beobachtung jugendlicher Charaktere.</head><lb/>
            <note type="editorial">
              <bibl>
                <persName ref="#ref79"><note type="editorial"/>Spazier, Karl</persName>
              </bibl>
            </note>
            <p>Jch hatte einen Zo&#x0364;gling, der etwas u&#x0364;ber eilf Jahre alt,                   schwerfa&#x0364;llig und von sta&#x0364;rkern Gliedern war, als sie in den Jahren zu seyn pflegen.                   Seine Seele war, und ist zum Theil noch, was man gemeine Seele zu nennen pflegt;                   außer einem ziemlich glu&#x0364;cklichen Geda&#x0364;chtniß, zeichnet sie sich weder durch                   vorzu&#x0364;gliche Anlagen, noch durch Reizbarkeit und Schnelligkeit der Empfindung aus.                   Er a&#x0364;ußert wenig Theilnehmung an a&#x0364;ußern Gegensta&#x0364;nden; ich habe ihn o&#x0364;fters ru&#x0364;hrenden                   Scenen ohne sichtbare Theilnehmung beiwohnen, interessante Geschichten und                   Erza&#x0364;hlungen mit anho&#x0364;ren sehen, ohne daß er daru&#x0364;ber besondere Mitfreude oder                   Traurigkeit gea&#x0364;ußert ha&#x0364;tte. Er bleibt in seiner behaglichen Ruhe, in der ihm                   allein wohl ist, und aus der ihn selten etwas, am wenigsten Musik herauszubringen                   im Stande ist. Dabei ist er ein a&#x0364;ußerst gutmu&#x0364;thiger Knabe, wen er einmal liebt, an                   dem ha&#x0364;ngt er mit Leib und Seele; aber ein Druck der Hand, ein poßierliches                   Hinzudra&#x0364;ngen zu ihm, ist alles, was man in dem Fall von ihm erwarten kann.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0093] Zur Seelenzeichenkunde. I. Beobachtung jugendlicher Charaktere. Jch hatte einen Zoͤgling, der etwas uͤber eilf Jahre alt, schwerfaͤllig und von staͤrkern Gliedern war, als sie in den Jahren zu seyn pflegen. Seine Seele war, und ist zum Theil noch, was man gemeine Seele zu nennen pflegt; außer einem ziemlich gluͤcklichen Gedaͤchtniß, zeichnet sie sich weder durch vorzuͤgliche Anlagen, noch durch Reizbarkeit und Schnelligkeit der Empfindung aus. Er aͤußert wenig Theilnehmung an aͤußern Gegenstaͤnden; ich habe ihn oͤfters ruͤhrenden Scenen ohne sichtbare Theilnehmung beiwohnen, interessante Geschichten und Erzaͤhlungen mit anhoͤren sehen, ohne daß er daruͤber besondere Mitfreude oder Traurigkeit geaͤußert haͤtte. Er bleibt in seiner behaglichen Ruhe, in der ihm allein wohl ist, und aus der ihn selten etwas, am wenigsten Musik herauszubringen im Stande ist. Dabei ist er ein aͤußerst gutmuͤthiger Knabe, wen er einmal liebt, an dem haͤngt er mit Leib und Seele; aber ein Druck der Hand, ein poßierliches Hinzudraͤngen zu ihm, ist alles, was man in dem Fall von ihm erwarten kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/93
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/93>, abgerufen am 18.08.2024.