Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.II. Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Jdeen. Diepholtz den 4ten Januar 1785. Jm Sommer 1783 mußte ich eine Reise nach Göttingen machen. Bekanntlich ists mit dem Verreisen eines Arztes immer so eine Sache -- und darum freute ich mich recht sehr, alle meine Patienten auf so erwünschter Besserung zu sehen, daß ihnen schriftliche Jnstructionen ein vollkommenes Genüge leisten konnten. Frau Pastorin Soltenborn befand sich mit unter der Anzahl der Reconvalescenten, die ich zurücklassen mußte, und nach allen medicinischen Gründen zu urtheilen, konnte ich ihrentwegen ganz unbesorgt seyn. Zwar hatte sie einen schwachen und empfindlichen Körper, und war auch, durch Schuld ihrer ehemaligen Kinderwärterin, auf der einen Seite etwas verwachsen; aber demohngeachtet genoß sie immer eine gute Gesundheit. Etwa ein Vierteljahr vor ihrer letzten Krankheit bemerkte ich, daß sie auf einmal sehr blaß wurde, und mit verstörtem Gesicht plötzlich die Gesellschaft, worin ich mich auch befand, verließ. Nachher sagte sie mir, es wäre ihr auf einmal übel geworden, und sie hätte heftiges Herzklopfen und starke Beängstigung gespürt. Weil aber diese Zu- II. Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Jdeen. Diepholtz den 4ten Januar 1785. Jm Sommer 1783 mußte ich eine Reise nach Goͤttingen machen. Bekanntlich ists mit dem Verreisen eines Arztes immer so eine Sache — und darum freute ich mich recht sehr, alle meine Patienten auf so erwuͤnschter Besserung zu sehen, daß ihnen schriftliche Jnstructionen ein vollkommenes Genuͤge leisten konnten. Frau Pastorin Soltenborn befand sich mit unter der Anzahl der Reconvalescenten, die ich zuruͤcklassen mußte, und nach allen medicinischen Gruͤnden zu urtheilen, konnte ich ihrentwegen ganz unbesorgt seyn. Zwar hatte sie einen schwachen und empfindlichen Koͤrper, und war auch, durch Schuld ihrer ehemaligen Kinderwaͤrterin, auf der einen Seite etwas verwachsen; aber demohngeachtet genoß sie immer eine gute Gesundheit. Etwa ein Vierteljahr vor ihrer letzten Krankheit bemerkte ich, daß sie auf einmal sehr blaß wurde, und mit verstoͤrtem Gesicht ploͤtzlich die Gesellschaft, worin ich mich auch befand, verließ. Nachher sagte sie mir, es waͤre ihr auf einmal uͤbel geworden, und sie haͤtte heftiges Herzklopfen und starke Beaͤngstigung gespuͤrt. Weil aber diese Zu- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0080" n="80"/><lb/><lb/> </div> </div> <div n="3"> <head><hi rendition="#aq">II</hi>. Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Jdeen.</head><lb/> <note type="editorial"> <bibl> <persName ref="#ref78"><note type="editorial"/>Wedekind, Georg Christian Gottlieb</persName> </bibl> </note> <opener> <dateline> <hi rendition="#right">Diepholtz den 4ten Januar 1785.</hi> </dateline> </opener> <p>Jm Sommer 1783 mußte ich eine Reise nach Goͤttingen machen. Bekanntlich ists mit dem Verreisen eines Arztes immer so eine Sache — und darum freute ich mich recht sehr, alle meine Patienten auf so erwuͤnschter Besserung zu sehen, daß ihnen schriftliche Jnstructionen ein vollkommenes Genuͤge leisten konnten. </p> <p>Frau Pastorin Soltenborn befand sich mit unter der Anzahl der Reconvalescenten, die ich zuruͤcklassen mußte, und nach allen medicinischen Gruͤnden zu urtheilen, konnte ich ihrentwegen ganz unbesorgt seyn. Zwar hatte sie einen schwachen und empfindlichen Koͤrper, und war auch, durch Schuld ihrer ehemaligen Kinderwaͤrterin, auf der einen Seite etwas verwachsen; aber demohngeachtet genoß sie immer eine gute Gesundheit. </p> <p>Etwa ein Vierteljahr vor ihrer letzten Krankheit bemerkte ich, daß sie auf einmal sehr blaß wurde, und mit verstoͤrtem Gesicht ploͤtzlich die Gesellschaft, worin ich mich auch befand, verließ. Nachher sagte sie mir, es waͤre ihr auf einmal uͤbel geworden, und sie haͤtte heftiges Herzklopfen und starke Beaͤngstigung gespuͤrt. Weil aber diese Zu-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0080]
II. Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunkeln Jdeen.
Diepholtz den 4ten Januar 1785. Jm Sommer 1783 mußte ich eine Reise nach Goͤttingen machen. Bekanntlich ists mit dem Verreisen eines Arztes immer so eine Sache — und darum freute ich mich recht sehr, alle meine Patienten auf so erwuͤnschter Besserung zu sehen, daß ihnen schriftliche Jnstructionen ein vollkommenes Genuͤge leisten konnten.
Frau Pastorin Soltenborn befand sich mit unter der Anzahl der Reconvalescenten, die ich zuruͤcklassen mußte, und nach allen medicinischen Gruͤnden zu urtheilen, konnte ich ihrentwegen ganz unbesorgt seyn. Zwar hatte sie einen schwachen und empfindlichen Koͤrper, und war auch, durch Schuld ihrer ehemaligen Kinderwaͤrterin, auf der einen Seite etwas verwachsen; aber demohngeachtet genoß sie immer eine gute Gesundheit.
Etwa ein Vierteljahr vor ihrer letzten Krankheit bemerkte ich, daß sie auf einmal sehr blaß wurde, und mit verstoͤrtem Gesicht ploͤtzlich die Gesellschaft, worin ich mich auch befand, verließ. Nachher sagte sie mir, es waͤre ihr auf einmal uͤbel geworden, und sie haͤtte heftiges Herzklopfen und starke Beaͤngstigung gespuͤrt. Weil aber diese Zu-
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