Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785.Die brüderliche Liebe kämpfte mit dem vermeinten Berufe ihn zu tödten je länger je heftiger, ich bewunderte die sanfte Ruhe desselben, umarmte den so unbekümmert Schlafenden, küßte ihn, stand auf, ergriff das Messer -- -- legte es zusammen, verbarg es sorgfältig zwischen Bücher und Papier,legte mich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und -- betete. Meine Ruhe und Seelenstille kehrte nach und nach wieder, und unaussprechlich groß war meine Freude, daß mir kein anderes als gerade ein Einlegemesser zur Hand gewesen, und daß ich meinen lieben kleinen Bruder nun nicht tödten sollte. Jhn rettete also vom Tode und mich von der fürchterlichsten Angst und unmenschlichsten That, schwärzer in der Ausführung, als je eine Kainshandlung -- das versteckte Einlegemesser und ein inbrünstiges Gebet, wodurch das verwirrte Gewebe meiner gegenwärtigen Jdeen vereinfachet, die unwillkührlichen abgeleitet, und freiwilligere wieder herrschend wurden. Wie fest nun dieser Mordentschluß bei mir war, beweiset theils die immer noch von ängstlichem Mißtrauen begleitete Freude, da der Paroxismus bereits vorüber war; theils, daß ich nicht an die daraufgesetzte Todesstrafe dachte, da ich doch damals von der, diesem Alter in solchem Falle bewilligten Begnadigung, zuverläßig noch nichts Die bruͤderliche Liebe kaͤmpfte mit dem vermeinten Berufe ihn zu toͤdten je laͤnger je heftiger, ich bewunderte die sanfte Ruhe desselben, umarmte den so unbekuͤmmert Schlafenden, kuͤßte ihn, stand auf, ergriff das Messer — — legte es zusammen, verbarg es sorgfaͤltig zwischen Buͤcher und Papier,legte mich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und — betete. Meine Ruhe und Seelenstille kehrte nach und nach wieder, und unaussprechlich groß war meine Freude, daß mir kein anderes als gerade ein Einlegemesser zur Hand gewesen, und daß ich meinen lieben kleinen Bruder nun nicht toͤdten sollte. Jhn rettete also vom Tode und mich von der fuͤrchterlichsten Angst und unmenschlichsten That, schwaͤrzer in der Ausfuͤhrung, als je eine Kainshandlung — das versteckte Einlegemesser und ein inbruͤnstiges Gebet, wodurch das verwirrte Gewebe meiner gegenwaͤrtigen Jdeen vereinfachet, die unwillkuͤhrlichen abgeleitet, und freiwilligere wieder herrschend wurden. Wie fest nun dieser Mordentschluß bei mir war, beweiset theils die immer noch von aͤngstlichem Mißtrauen begleitete Freude, da der Paroxismus bereits voruͤber war; theils, daß ich nicht an die daraufgesetzte Todesstrafe dachte, da ich doch damals von der, diesem Alter in solchem Falle bewilligten Begnadigung, zuverlaͤßig noch nichts <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0059" n="59"/><lb/> <p>Die bruͤderliche Liebe kaͤmpfte mit dem vermeinten Berufe ihn zu toͤdten je laͤnger je heftiger, ich bewunderte die sanfte Ruhe desselben, umarmte den so unbekuͤmmert Schlafenden, kuͤßte ihn, stand auf, <hi rendition="#b">ergriff das Messer — — legte es zusammen, verbarg es sorgfaͤltig zwischen Buͤcher und Papier,</hi>legte mich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und <hi rendition="#b">— betete.</hi></p> <p>Meine Ruhe und Seelenstille kehrte nach und nach wieder, und unaussprechlich groß war meine Freude, daß mir kein anderes als gerade ein <hi rendition="#b">Einlegemesser</hi> zur Hand gewesen, und daß ich meinen lieben kleinen Bruder nun nicht toͤdten <hi rendition="#b">sollte.</hi> Jhn rettete also vom Tode und mich von der fuͤrchterlichsten Angst und unmenschlichsten That, schwaͤrzer in der Ausfuͤhrung, als je eine Kainshandlung — das <hi rendition="#b">versteckte Einlegemesser</hi> und ein inbruͤnstiges <hi rendition="#b">Gebet,</hi> wodurch das verwirrte Gewebe meiner gegenwaͤrtigen Jdeen vereinfachet, die unwillkuͤhrlichen abgeleitet, und freiwilligere wieder herrschend wurden. </p> <p>Wie fest nun dieser Mordentschluß bei mir war, beweiset theils die immer noch von aͤngstlichem Mißtrauen begleitete Freude, da der Paroxismus bereits voruͤber war; theils, daß ich nicht an die daraufgesetzte Todesstrafe dachte, da ich doch damals von der, diesem Alter in solchem Falle bewilligten Begnadigung, zuverlaͤßig noch nichts<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0059]
Die bruͤderliche Liebe kaͤmpfte mit dem vermeinten Berufe ihn zu toͤdten je laͤnger je heftiger, ich bewunderte die sanfte Ruhe desselben, umarmte den so unbekuͤmmert Schlafenden, kuͤßte ihn, stand auf, ergriff das Messer — — legte es zusammen, verbarg es sorgfaͤltig zwischen Buͤcher und Papier,legte mich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und — betete.
Meine Ruhe und Seelenstille kehrte nach und nach wieder, und unaussprechlich groß war meine Freude, daß mir kein anderes als gerade ein Einlegemesser zur Hand gewesen, und daß ich meinen lieben kleinen Bruder nun nicht toͤdten sollte. Jhn rettete also vom Tode und mich von der fuͤrchterlichsten Angst und unmenschlichsten That, schwaͤrzer in der Ausfuͤhrung, als je eine Kainshandlung — das versteckte Einlegemesser und ein inbruͤnstiges Gebet, wodurch das verwirrte Gewebe meiner gegenwaͤrtigen Jdeen vereinfachet, die unwillkuͤhrlichen abgeleitet, und freiwilligere wieder herrschend wurden.
Wie fest nun dieser Mordentschluß bei mir war, beweiset theils die immer noch von aͤngstlichem Mißtrauen begleitete Freude, da der Paroxismus bereits voruͤber war; theils, daß ich nicht an die daraufgesetzte Todesstrafe dachte, da ich doch damals von der, diesem Alter in solchem Falle bewilligten Begnadigung, zuverlaͤßig noch nichts
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 2. Berlin, 1785, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0302_1785/59>, abgerufen am 15.08.2024. |