Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite


senden seines Gleichen merkwürdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu ändern ist) als wann er allein ist. Jnsonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kännchen (das ist für drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*). Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als möglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vorträge, derer ich mehrere und über unterschiedliche biblische Texte angehöret habe**), sind Bußpredigten oder Er-

*) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven müssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst wäre jenes wohl nicht möglich.
**) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten hält, weiß und sagt er selbst. Jch habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hörete ich ihn über Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls über jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kännchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals über Apost. Gesch. 20, v. 27. Jch habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhörer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und künstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er hält wahre paränetische Vorträge, nur ungefähr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas darüber.


senden seines Gleichen merkwuͤrdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu aͤndern ist) als wann er allein ist. Jnsonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kaͤnnchen (das ist fuͤr drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*). Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als moͤglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vortraͤge, derer ich mehrere und uͤber unterschiedliche biblische Texte angehoͤret habe**), sind Bußpredigten oder Er-

*) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven muͤssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst waͤre jenes wohl nicht moͤglich.
**) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten haͤlt, weiß und sagt er selbst. Jch habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hoͤrete ich ihn uͤber Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls uͤber jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kaͤnnchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals uͤber Apost. Gesch. 20, v. 27. Jch habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhoͤrer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und kuͤnstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er haͤlt wahre paraͤnetische Vortraͤge, nur ungefaͤhr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas daruͤber.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0045" n="43"/><lb/>
senden seines Gleichen merkwu&#x0364;rdig macht, ist: er predigt gar oft,                   zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei                   Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort,                   sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu a&#x0364;ndern ist) als wann er                   allein ist. Jnsonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum                   Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Ka&#x0364;nnchen (das ist fu&#x0364;r drei Pfennige)                   Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*)<note place="foot"><p>*) Er ist, wie man                         schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit                         einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen                         bringen. Seine Nerven mu&#x0364;ssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst wa&#x0364;re jenes                         wohl nicht mo&#x0364;glich.</p></note>. Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so                   merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt                   zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel                   als mo&#x0364;glich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vortra&#x0364;ge,                   derer ich mehrere und u&#x0364;ber unterschiedliche biblische Texte angeho&#x0364;ret habe**)<note place="foot"><p>**) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten ha&#x0364;lt,                         weiß und sagt er selbst. Jch habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai                         1779 ho&#x0364;rete ich ihn u&#x0364;ber Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und                         da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm                         ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls u&#x0364;ber jenen Spruch eine Predigt,                         vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ                         ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes                         Ka&#x0364;nnchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals u&#x0364;ber Apost.                         Gesch. 20, v. 27. Jch habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuho&#x0364;rer                         geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte.                         Thema und ku&#x0364;nstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er ha&#x0364;lt                         wahre para&#x0364;netische Vortra&#x0364;ge, nur ungefa&#x0364;hr eine Viertelstunde lang, auch wohl                         etwas daru&#x0364;ber.</p></note>, sind Bußpredigten oder Er-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[43/0045] senden seines Gleichen merkwuͤrdig macht, ist: er predigt gar oft, zuweilen innerhalb vierundzwanzig Stunden drey- und mehrmal, und zwar sowohl bei Nacht als bei Tage, sowohl zu Hause als unterwegens und an einem fremden Ort, sowohl unter dem zahlreichsten Umstande (wenn es nicht zu aͤndern ist) als wann er allein ist. Jnsonderheit wird er, und, wie es scheinet, wider seinen Willen, zum Predigen getrieben, wenn er nur ein halbes Kaͤnnchen (das ist fuͤr drei Pfennige) Brantwein, ja noch weniger, genossen hat*) . Kommt ihm der Trieb zum Predigen an, so merket er es kaum eine Minute vorher: es scheinet ihm angst und das Herz beklemmt zu werden, und er sucht sich alsdann eilends von menschlicher Gesellschaft, soviel als moͤglich ist, zu entfernen, und setzet sich geschwind nieder. Seine Vortraͤge, derer ich mehrere und uͤber unterschiedliche biblische Texte angehoͤret habe**) , sind Bußpredigten oder Er- *) Er ist, wie man schon hieraus abnehmen wird, dem Trunke nicht ergeben; daher kann man mit einer solchen Kleinigkeit von Brantwein ihn nach Gefallen zum Predigen bringen. Seine Nerven muͤssen aber auch sehr reizbar seyn; sonst waͤre jenes wohl nicht moͤglich. **) Daß er nicht bloß Eine, sondern mehrere Predigten haͤlt, weiß und sagt er selbst. Jch habe dieses ebenfalls bemerket. Am 25sten Mai 1779 hoͤrete ich ihn uͤber Matth. 10, v. 16. Seid klug, wie etc. predigen: und da ich am 1sten Junii dieses laufenden Jahres 1784 zu Waldeck war, vernahm ich, daß er an letztgenanntem Tage ebenfalls uͤber jenen Spruch eine Predigt, vermuthlich also auch ebendieselbige, gehalten habe. Auf meiner Stube ließ ich ihn am 24sten Mai 1780 predigen, nachdem ich ihm kaum ein halbes Kaͤnnchen Brantwein hatte reichen lassen: und er predigte damals uͤber Apost. Gesch. 20, v. 27. Jch habe euch nichts etc. Mehrmals bin ich sein Zuhoͤrer geworden, wann er schon vor einigen Minuten zu predigen angefangen hatte. Thema und kuͤnstliche Disposition habe ich niemals vernommen, sondern er haͤlt wahre paraͤnetische Vortraͤge, nur ungefaͤhr eine Viertelstunde lang, auch wohl etwas daruͤber.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/45
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/45>, abgerufen am 28.11.2024.