Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785.Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Jch that es, nachdem ich ihr noch einmal völlige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden für sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. -- Und endlich verdrängte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Jch habe das überhaupt oft bei mir bestätiget gefunden, daß mich eine verübte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen überzeugt war; je weniger war mir's möglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niederträchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto stärker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzaͤhlung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Jch that es, nachdem ich ihr noch einmal voͤllige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden fuͤr sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. — Und endlich verdraͤngte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Jch habe das uͤberhaupt oft bei mir bestaͤtiget gefunden, daß mich eine veruͤbte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen uͤberzeugt war; je weniger war mir's moͤglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niedertraͤchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto staͤrker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0032" n="30"/><lb/> <p>Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzaͤhlung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Jch that es, nachdem ich ihr noch einmal voͤllige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden fuͤr sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. — Und endlich verdraͤngte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Jch habe das uͤberhaupt oft bei mir bestaͤtiget gefunden, daß mich eine veruͤbte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen uͤberzeugt war; je weniger war mir's moͤglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niedertraͤchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto staͤrker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [30/0032]
Es schlug neun Uhr, als sie mit ihrer Erzaͤhlung zu Ende war, und nun bat sie mich, mich zu entfernen. Jch that es, nachdem ich ihr noch einmal voͤllige Verschwiegenheit angelobt, und sie meiner fortdaurenden Freundschaft und nahen Antheils an ihren Schicksaalen versichert hatte. Meine Empfindungen waren verschieden, mit welchen ich mich wegbegab. Der Wunsch: die Ruhe in dieser Familie hergestellt zu sehen, war der erste, ob ich gleich die Schwierigkeiten dabei einsahe. Freilich war Dulden fuͤr sie das Beste, aber wie konnt' ichs andern anrathen, da ich selbst Zweifel dagegen hatte. — Und endlich verdraͤngte diese Empfindung bald eine andere, die wahrscheinlich aus dem hohen Grad von Abscheu herfloß, welchen ich gegen ihn gefaßt hatte. Jch habe das uͤberhaupt oft bei mir bestaͤtiget gefunden, daß mich eine veruͤbte Beleidigung an andern in der Folge dann am heftigsten reute, wenn mir der Beleidigte als ein edler Mensch erschien. Je mehr ich von seiner Tugend, Unschuld und gutem Herzen uͤberzeugt war; je weniger war mir's moͤglich, ihm auf die geringste Art zu nahe zu treten, und je heftiger war dann meine Angst, wenn ichs (auch ohne Absicht) gethan hatte. Das heißt: ich mache mir mehr Gewissen, einen Rechtschaffenen als einen Niedertraͤchtigen zu beleidigen. Das ist diejenige Empfindung, die desto staͤrker ward, je mehr sich meine Seele alles das Schlechte in dem Betragen
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 3, St. 1. Berlin, 1785, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0301_1785/32>, abgerufen am 16.07.2024. |