Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


sie selbst schon ähnliche Regungen gefühlt haben, denn wie ist es möglich, daß ein junges, wieder zur völligen Gesundheit gelangtes Mädchen, die schon oft das Ziel der Liebe (ein Ausdruck, der sich eigentlich für ein feiles Mädchen, die sie doch gewesen war, nicht schickt) nun auf einmal ganz und gar enthaltsam geworden sey. "Es ist in dem Wesen der Liebe, sagt Wieland, so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint." Eine Bemerkung, die ich selbst durch meine Geschichte bestätiget habe.

An einem schönen Abend im August zog sich bald ein fürchterlich Gewitter zusammen. Wir gingen, wie gewöhnlich, auf dem Felde spazieren. Kaum erreichten wir ihre Wohnung, als das Gewitter sich näher zusammenzog und entsetzlich zu wüthen anfing. Der Regen und Sturmwind dauerte bis zwölf Uhr. Jch konnte nun unmöglich nach Hause gehen: denn sowohl die Thore als mein Haus waren verschlossen. Jch entschloß mich, da zu bleiben, und wir wurden einig, die ganze Nacht zu wachen. Um ein Uhr klärte sich der Himmel auf, und es wurde schön Wetter. Alles schlief nun -- nur wir allein wachten. Die Stille der Nacht -- der erquickende kühlende Geruch nach dem Gewitter -- allein, ohne Zeugen, ohne Beschäftigung (denn die Quellen, woraus wir sonst schöpf-


sie selbst schon aͤhnliche Regungen gefuͤhlt haben, denn wie ist es moͤglich, daß ein junges, wieder zur voͤlligen Gesundheit gelangtes Maͤdchen, die schon oft das Ziel der Liebe (ein Ausdruck, der sich eigentlich fuͤr ein feiles Maͤdchen, die sie doch gewesen war, nicht schickt) nun auf einmal ganz und gar enthaltsam geworden sey. »Es ist in dem Wesen der Liebe, sagt Wieland, so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint.« Eine Bemerkung, die ich selbst durch meine Geschichte bestaͤtiget habe.

An einem schoͤnen Abend im August zog sich bald ein fuͤrchterlich Gewitter zusammen. Wir gingen, wie gewoͤhnlich, auf dem Felde spazieren. Kaum erreichten wir ihre Wohnung, als das Gewitter sich naͤher zusammenzog und entsetzlich zu wuͤthen anfing. Der Regen und Sturmwind dauerte bis zwoͤlf Uhr. Jch konnte nun unmoͤglich nach Hause gehen: denn sowohl die Thore als mein Haus waren verschlossen. Jch entschloß mich, da zu bleiben, und wir wurden einig, die ganze Nacht zu wachen. Um ein Uhr klaͤrte sich der Himmel auf, und es wurde schoͤn Wetter. Alles schlief nun ― nur wir allein wachten. Die Stille der Nacht ― der erquickende kuͤhlende Geruch nach dem Gewitter ― allein, ohne Zeugen, ohne Beschaͤftigung (denn die Quellen, woraus wir sonst schoͤpf-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0070" n="70"/><lb/>
sie selbst schon a&#x0364;hnliche Regungen                         gefu&#x0364;hlt haben, denn wie ist es mo&#x0364;glich, daß ein junges, wieder zur vo&#x0364;lligen                         Gesundheit gelangtes Ma&#x0364;dchen, die schon oft das Ziel der Liebe (ein                         Ausdruck, der sich eigentlich fu&#x0364;r ein feiles Ma&#x0364;dchen, die sie doch gewesen                         war, nicht schickt) nun auf einmal ganz und gar enthaltsam geworden sey. »Es                         ist in dem Wesen der Liebe, sagt Wieland, so lange zuzunehmen, bis sie das                         Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint.« Eine Bemerkung,                         die ich selbst durch meine Geschichte besta&#x0364;tiget habe. </p>
            <p>An einem scho&#x0364;nen Abend im August zog sich bald ein fu&#x0364;rchterlich Gewitter                         zusammen. Wir gingen, wie gewo&#x0364;hnlich, auf dem Felde spazieren. Kaum                         erreichten wir ihre Wohnung, als das Gewitter sich na&#x0364;her zusammenzog und                         entsetzlich zu wu&#x0364;then anfing. Der Regen und Sturmwind dauerte bis zwo&#x0364;lf Uhr.                         Jch konnte nun unmo&#x0364;glich nach Hause gehen: denn sowohl die Thore als mein                         Haus waren verschlossen. Jch entschloß mich, da zu bleiben, und wir wurden                         einig, die ganze Nacht zu wachen. Um ein Uhr kla&#x0364;rte sich der Himmel auf, und                         es wurde scho&#x0364;n Wetter. Alles schlief nun &#x2015; nur wir allein wachten. Die                         Stille der Nacht &#x2015; der erquickende ku&#x0364;hlende Geruch nach dem Gewitter &#x2015;                         allein, ohne Zeugen, ohne Bescha&#x0364;ftigung (denn die Quellen, woraus wir sonst                             scho&#x0364;pf-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0070] sie selbst schon aͤhnliche Regungen gefuͤhlt haben, denn wie ist es moͤglich, daß ein junges, wieder zur voͤlligen Gesundheit gelangtes Maͤdchen, die schon oft das Ziel der Liebe (ein Ausdruck, der sich eigentlich fuͤr ein feiles Maͤdchen, die sie doch gewesen war, nicht schickt) nun auf einmal ganz und gar enthaltsam geworden sey. »Es ist in dem Wesen der Liebe, sagt Wieland, so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint.« Eine Bemerkung, die ich selbst durch meine Geschichte bestaͤtiget habe. An einem schoͤnen Abend im August zog sich bald ein fuͤrchterlich Gewitter zusammen. Wir gingen, wie gewoͤhnlich, auf dem Felde spazieren. Kaum erreichten wir ihre Wohnung, als das Gewitter sich naͤher zusammenzog und entsetzlich zu wuͤthen anfing. Der Regen und Sturmwind dauerte bis zwoͤlf Uhr. Jch konnte nun unmoͤglich nach Hause gehen: denn sowohl die Thore als mein Haus waren verschlossen. Jch entschloß mich, da zu bleiben, und wir wurden einig, die ganze Nacht zu wachen. Um ein Uhr klaͤrte sich der Himmel auf, und es wurde schoͤn Wetter. Alles schlief nun ― nur wir allein wachten. Die Stille der Nacht ― der erquickende kuͤhlende Geruch nach dem Gewitter ― allein, ohne Zeugen, ohne Beschaͤftigung (denn die Quellen, woraus wir sonst schoͤpf-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/70
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/70>, abgerufen am 06.05.2024.