Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

Bild:
<< vorherige Seite


Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niederträchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte -- Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen -- denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich fähig, mich zu rächen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen -- und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es wäre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. "So wollen wir miteinander gehen!" sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Häuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe überfiel, daß ich genöthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer vorüber, welche wir im


Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niedertraͤchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte ― Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen ― denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich faͤhig, mich zu raͤchen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen ― und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es waͤre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. »So wollen wir miteinander gehen!« sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Haͤuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe uͤberfiel, daß ich genoͤthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer voruͤber, welche wir im

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0061" n="61"/><lb/>
Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen                         spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niedertra&#x0364;chtige N*** meine                         Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige                         Einnahme hatte &#x2015; Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir                         seine Besuche wieder gefallen lassen &#x2015; denn nur in dem Augenblick der                         Beleidigung bin ich fa&#x0364;hig, mich zu ra&#x0364;chen, allein, sobald zwei bis drei Tage                         verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu                         entschuldigen &#x2015; und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus                         Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß                         leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines                         Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen                         kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er                         frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es                         wa&#x0364;re mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen                         hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. »So wollen wir                         miteinander gehen!« sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum                         einige Ha&#x0364;user weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem                         Leibe u&#x0364;berfiel, daß ich geno&#x0364;thiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses                         niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer voru&#x0364;ber,                         welche wir im<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0061] Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niedertraͤchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte ― Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen ― denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich faͤhig, mich zu raͤchen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen ― und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es waͤre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. »So wollen wir miteinander gehen!« sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Haͤuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe uͤberfiel, daß ich genoͤthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer voruͤber, welche wir im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/61
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/61>, abgerufen am 06.05.2024.