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Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.

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Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niederträchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte -- Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen -- denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich fähig, mich zu rächen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen -- und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es wäre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. "So wollen wir miteinander gehen!" sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Häuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe überfiel, daß ich genöthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer vorüber, welche wir im


Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niedertraͤchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte ― Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen ― denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich faͤhig, mich zu raͤchen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen ― und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es waͤre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. »So wollen wir miteinander gehen!« sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Haͤuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe uͤberfiel, daß ich genoͤthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer voruͤber, welche wir im

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[61/0061] Abends in der Stadt ganz traurig und niedergeschlagen spazieren. (Jch habe vergessen zu sagen, daß der niedertraͤchtige N*** meine Freundschaft wieder gesucht hatte, sobald er wieder sahe, daß ich einige Einnahme hatte ― Jch, der ich gern und willig verzeihen kann, hatte mir seine Besuche wieder gefallen lassen ― denn nur in dem Augenblick der Beleidigung bin ich faͤhig, mich zu raͤchen, allein, sobald zwei bis drei Tage verflossen sind, so ist der Eindruck nicht mehr derselbe; ich fange an zu entschuldigen ― und vielleicht vergeben die mehresten Menschen mehr aus Temperament, als aus Pflicht. Jch wenigstens habe die Bemerkung gemacht, daß leichtsinnige Temperamenter am ersten zur Verzeihung bereit sind.) Eines Abends also, da ich so spazieren ging, stieß er mir auf, da er mir entgegen kam. Jch fragte ihn: wo er hinwollte? und er antwortete mir: spazieren! Er frug mich, warum ich niedergeschlagen schien? und ich entschuldigte mich: es waͤre mir nicht wohl, darum machte ich mir eine kleine Motion: denn Vertrauen hatte ich zu ihm nicht, weil ich sein Herz kannte. »So wollen wir miteinander gehen!« sagte er, und ich ließ mirs gefallen. Wir waren kaum einige Haͤuser weiter gekommen, als mich auf einmal ein Schmerz in meinem Leibe uͤberfiel, daß ich genoͤthiget ward, mich auf die Treppe eines Hauses niederzusetzen. N*** stand bei mir. So eben ging ein Frauenzimmer voruͤber, welche wir im

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/61>, abgerufen am 21.11.2024.