Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, wie ich, im Aerger über die Vernachlässigung meiner Pflichten, bei einem kümmerlichen, erstarrten Bäumchen schnell umkehrte und schneller als fliegend davon fuhr. Ohne etwas versäumt zu haben, kam ich in Neisse an. Warum nicht in Brieg? Hier schweigt die Geschichte. Halb todt trat ich in meine Stube und kaum hatte ich mich niedergelegt, als ich schon fühlte, daß ich mich nicht recht besinnen konnte; ich zweifelte, ob ich in meiner ehemaligen Wohnung sei. Da man mich zu überzeugen suchte, half ich mir selbst, indem ich mich der Gesichter einiger Heiligen, die an der Wand hingen, wieder zu erinnern bemühet war. Auf diese Art gelang es mir wirklich, daß ich wieder wuste, wo ich war. Jetzt machte ich mir die bittersten Vorwürfe, durch eine so unbesonnene Reise mir eine Krankheit zugezogen und mich dadurch aufs neue zum Dienst des Lazareths untüchtig gemacht zu haben. Hier war es, wo ich von Verbindlichkeiten, Pflichten, Gewissen, Verantwortung u.d.gl. bis zur gänzlichen Ermattung, wie meine Freunde nach-
Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, wie ich, im Aerger uͤber die Vernachlaͤssigung meiner Pflichten, bei einem kuͤmmerlichen, erstarrten Baͤumchen schnell umkehrte und schneller als fliegend davon fuhr. Ohne etwas versaͤumt zu haben, kam ich in Neisse an. Warum nicht in Brieg? Hier schweigt die Geschichte. Halb todt trat ich in meine Stube und kaum hatte ich mich niedergelegt, als ich schon fuͤhlte, daß ich mich nicht recht besinnen konnte; ich zweifelte, ob ich in meiner ehemaligen Wohnung sei. Da man mich zu uͤberzeugen suchte, half ich mir selbst, indem ich mich der Gesichter einiger Heiligen, die an der Wand hingen, wieder zu erinnern bemuͤhet war. Auf diese Art gelang es mir wirklich, daß ich wieder wuste, wo ich war. Jetzt machte ich mir die bittersten Vorwuͤrfe, durch eine so unbesonnene Reise mir eine Krankheit zugezogen und mich dadurch aufs neue zum Dienst des Lazareths untuͤchtig gemacht zu haben. Hier war es, wo ich von Verbindlichkeiten, Pflichten, Gewissen, Verantwortung u.d.gl. bis zur gaͤnzlichen Ermattung, wie meine Freunde nach- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0006" n="6"/><lb/> dem Abhange eines grossen Gebirges. Vor mir, wo es am dunkelsten war, bis Neisse wurde es immer heller, so daß es hier nur daͤmmerte, oder hoͤchstens so helle war, wie an einem truͤben Wintertage. </p> <p>Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, wie ich, im Aerger uͤber die Vernachlaͤssigung meiner Pflichten, bei einem kuͤmmerlichen, erstarrten Baͤumchen schnell umkehrte und schneller als fliegend davon fuhr. Ohne etwas versaͤumt zu haben, kam ich in Neisse an. Warum nicht in Brieg? Hier schweigt die Geschichte. </p> <p>Halb todt trat ich in meine Stube und kaum hatte ich mich niedergelegt, als ich schon fuͤhlte, daß ich mich nicht recht besinnen konnte; ich zweifelte, ob ich in meiner ehemaligen Wohnung sei. Da man mich zu uͤberzeugen suchte, half ich mir selbst, indem ich mich der Gesichter einiger Heiligen, die an der Wand hingen, wieder zu erinnern bemuͤhet war. </p> <p>Auf diese Art gelang es mir wirklich, daß ich wieder wuste, wo ich war. Jetzt machte ich mir die bittersten Vorwuͤrfe, durch eine so unbesonnene Reise mir eine Krankheit zugezogen und mich dadurch aufs neue zum Dienst des Lazareths untuͤchtig gemacht zu haben. </p> <p>Hier war es, wo ich von Verbindlichkeiten, Pflichten, Gewissen, Verantwortung u.d.gl. bis zur gaͤnzlichen Ermattung, wie meine Freunde nach-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0006]
dem Abhange eines grossen Gebirges. Vor mir, wo es am dunkelsten war, bis Neisse wurde es immer heller, so daß es hier nur daͤmmerte, oder hoͤchstens so helle war, wie an einem truͤben Wintertage.
Sehr lebhaft erinnere ich mich noch, wie ich, im Aerger uͤber die Vernachlaͤssigung meiner Pflichten, bei einem kuͤmmerlichen, erstarrten Baͤumchen schnell umkehrte und schneller als fliegend davon fuhr. Ohne etwas versaͤumt zu haben, kam ich in Neisse an. Warum nicht in Brieg? Hier schweigt die Geschichte.
Halb todt trat ich in meine Stube und kaum hatte ich mich niedergelegt, als ich schon fuͤhlte, daß ich mich nicht recht besinnen konnte; ich zweifelte, ob ich in meiner ehemaligen Wohnung sei. Da man mich zu uͤberzeugen suchte, half ich mir selbst, indem ich mich der Gesichter einiger Heiligen, die an der Wand hingen, wieder zu erinnern bemuͤhet war.
Auf diese Art gelang es mir wirklich, daß ich wieder wuste, wo ich war. Jetzt machte ich mir die bittersten Vorwuͤrfe, durch eine so unbesonnene Reise mir eine Krankheit zugezogen und mich dadurch aufs neue zum Dienst des Lazareths untuͤchtig gemacht zu haben.
Hier war es, wo ich von Verbindlichkeiten, Pflichten, Gewissen, Verantwortung u.d.gl. bis zur gaͤnzlichen Ermattung, wie meine Freunde nach-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/6 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/6>, abgerufen am 05.07.2024. |