Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784.
Eben so wenig wollte meine Mutter von den weißen Bären, die ich gesehen zu haben vorgab, etwas wissen, denn auch diese, sagte sie, hätte sie einmal lang vor meiner Geburt gesehen. Jch aber ließ mich sehr lange Zeit von dieser Meinung nicht abbringen, denn ich war von meinem vierten oder fünften Jahre an vest davon überzeugt, und auch gegenwärtig noch würde es mir schwer werden, davon abzugehen, wenn ich mir nicht die ganze Sache durch Hülfe der Einbildungskraft erklären könnte. Denn die Bilder von diesen Gegenständen schweben meiner Seele immer noch so lebhaft vor, als wenn ich die Gegenstände selbst erst gestern gesehen hätte, und ich kann auch die Sache nicht anders begreifen, da ich doch die öftere Versicherung meiner Mutter für wahr annehmen darf, als wenn ich mir sie so vorstelle, daß man mir in meiner frühesten Jugend von diesen Dingen erzählte, und sich die Bilder davon der jungen Seele so stark eindrückten, daß ich sie nachher, da ich die Erzählung vergaß, für selbst gesehene Gegenstände hielt.
Eben so wenig wollte meine Mutter von den weißen Baͤren, die ich gesehen zu haben vorgab, etwas wissen, denn auch diese, sagte sie, haͤtte sie einmal lang vor meiner Geburt gesehen. Jch aber ließ mich sehr lange Zeit von dieser Meinung nicht abbringen, denn ich war von meinem vierten oder fuͤnften Jahre an vest davon uͤberzeugt, und auch gegenwaͤrtig noch wuͤrde es mir schwer werden, davon abzugehen, wenn ich mir nicht die ganze Sache durch Huͤlfe der Einbildungskraft erklaͤren koͤnnte. Denn die Bilder von diesen Gegenstaͤnden schweben meiner Seele immer noch so lebhaft vor, als wenn ich die Gegenstaͤnde selbst erst gestern gesehen haͤtte, und ich kann auch die Sache nicht anders begreifen, da ich doch die oͤftere Versicherung meiner Mutter fuͤr wahr annehmen darf, als wenn ich mir sie so vorstelle, daß man mir in meiner fruͤhesten Jugend von diesen Dingen erzaͤhlte, und sich die Bilder davon der jungen Seele so stark eindruͤckten, daß ich sie nachher, da ich die Erzaͤhlung vergaß, fuͤr selbst gesehene Gegenstaͤnde hielt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0104" n="104"/><lb/> pagei, und das, was er von artikulirten Toͤnen nachzusprechen gelehrt worden, auf das genaueste und mit der eigenen Ueberzeugung meiner Mutter uͤbereinstimmendste zu sagen, wiewohl ich nach ihrer Versicherung und meiner eignen Erfahrung in meinem Leben keinen Papagei gesehen habe. </p> <p>Eben so wenig wollte meine Mutter von den weißen Baͤren, die ich gesehen zu haben vorgab, etwas wissen, denn auch diese, sagte sie, haͤtte sie einmal lang vor meiner Geburt gesehen. Jch aber ließ mich sehr lange Zeit von dieser Meinung nicht abbringen, denn ich war von meinem vierten oder fuͤnften Jahre an vest davon uͤberzeugt, und auch gegenwaͤrtig noch wuͤrde es mir schwer werden, davon abzugehen, wenn ich mir nicht die ganze Sache durch Huͤlfe der Einbildungskraft erklaͤren koͤnnte. </p> <p>Denn die Bilder von diesen Gegenstaͤnden schweben meiner Seele immer noch so lebhaft vor, als wenn ich die Gegenstaͤnde selbst erst gestern gesehen haͤtte, und ich kann auch die Sache nicht anders begreifen, da ich doch die oͤftere Versicherung meiner Mutter fuͤr wahr annehmen darf, als wenn ich mir sie so vorstelle, daß man mir in meiner fruͤhesten Jugend von diesen Dingen erzaͤhlte, und sich die Bilder davon der jungen Seele so stark eindruͤckten, daß ich sie nachher, da ich die Erzaͤhlung vergaß, fuͤr selbst gesehene Gegenstaͤnde hielt. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [104/0104]
pagei, und das, was er von artikulirten Toͤnen nachzusprechen gelehrt worden, auf das genaueste und mit der eigenen Ueberzeugung meiner Mutter uͤbereinstimmendste zu sagen, wiewohl ich nach ihrer Versicherung und meiner eignen Erfahrung in meinem Leben keinen Papagei gesehen habe.
Eben so wenig wollte meine Mutter von den weißen Baͤren, die ich gesehen zu haben vorgab, etwas wissen, denn auch diese, sagte sie, haͤtte sie einmal lang vor meiner Geburt gesehen. Jch aber ließ mich sehr lange Zeit von dieser Meinung nicht abbringen, denn ich war von meinem vierten oder fuͤnften Jahre an vest davon uͤberzeugt, und auch gegenwaͤrtig noch wuͤrde es mir schwer werden, davon abzugehen, wenn ich mir nicht die ganze Sache durch Huͤlfe der Einbildungskraft erklaͤren koͤnnte.
Denn die Bilder von diesen Gegenstaͤnden schweben meiner Seele immer noch so lebhaft vor, als wenn ich die Gegenstaͤnde selbst erst gestern gesehen haͤtte, und ich kann auch die Sache nicht anders begreifen, da ich doch die oͤftere Versicherung meiner Mutter fuͤr wahr annehmen darf, als wenn ich mir sie so vorstelle, daß man mir in meiner fruͤhesten Jugend von diesen Dingen erzaͤhlte, und sich die Bilder davon der jungen Seele so stark eindruͤckten, daß ich sie nachher, da ich die Erzaͤhlung vergaß, fuͤr selbst gesehene Gegenstaͤnde hielt.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 3. Berlin, 1784, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0203_1784/104>, abgerufen am 16.02.2025. |