Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784.
Was auch Perriere sagen mag, so ist immer jene Methode, welche die angebohrnen Seelenkräfte schneller entwickelt, derjenigen weit vorzuziehen, welche erst binnen einem Jahre und später die Dunkelheit im Verstande zerstreut. Freilich würde die Länge des Weges zu entschuldigen seyn, wenn einige Hofnung zu einem glücklichern Ausgange Statt fände, und der Weg selbst leicht und angenehm wäre. Aber im Gegentheil wird den Lehrlingen nicht nur ein langer, sondern auch ein rauher und unebner Weg vorgezeichnet. Das große und schwere Geschäft wird mit einer ekelhaften und lästigen Arbeit angefangen, welche doch noch erträglicher werden würde, wenn sie nur mit irgend einer andern Uebung abwechselte, wodurch die Seele allmälig einige Nahrung erhielte, und der Verstand allmälig erleuchtet würde. Aber nein! jetzt ist die Stunde zum Reden, die Zeit zum Denken ist noch nicht da: eine dicke Finsterniß ruhet auf der Seele, während daß das Band der Zunge gelöset wird. *) Freilich ein sonderbarer Grund des Herrn Abts, der vermuthlich glauben muß, daß die andern Taubstummen alle verdammt werden.
Was auch Perriere sagen mag, so ist immer jene Methode, welche die angebohrnen Seelenkraͤfte schneller entwickelt, derjenigen weit vorzuziehen, welche erst binnen einem Jahre und spaͤter die Dunkelheit im Verstande zerstreut. Freilich wuͤrde die Laͤnge des Weges zu entschuldigen seyn, wenn einige Hofnung zu einem gluͤcklichern Ausgange Statt faͤnde, und der Weg selbst leicht und angenehm waͤre. Aber im Gegentheil wird den Lehrlingen nicht nur ein langer, sondern auch ein rauher und unebner Weg vorgezeichnet. Das große und schwere Geschaͤft wird mit einer ekelhaften und laͤstigen Arbeit angefangen, welche doch noch ertraͤglicher werden wuͤrde, wenn sie nur mit irgend einer andern Uebung abwechselte, wodurch die Seele allmaͤlig einige Nahrung erhielte, und der Verstand allmaͤlig erleuchtet wuͤrde. Aber nein! jetzt ist die Stunde zum Reden, die Zeit zum Denken ist noch nicht da: eine dicke Finsterniß ruhet auf der Seele, waͤhrend daß das Band der Zunge geloͤset wird. *) Freilich ein sonderbarer Grund des Herrn Abts, der vermuthlich glauben muß, daß die andern Taubstummen alle verdammt werden.
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nissen der Religion, ob zwar nicht deutliche, doch hinlaͤngliche Begriffe geben koͤnnen, so daß, wenn sie waͤhrend der Zeit sterben, sie durch Christum die ewige Seeligkeit zu erlangen faͤhig sind.*)
Was auch Perriere sagen mag, so ist immer jene Methode, welche die angebohrnen Seelenkraͤfte schneller entwickelt, derjenigen weit vorzuziehen, welche erst binnen einem Jahre und spaͤter die Dunkelheit im Verstande zerstreut.
Freilich wuͤrde die Laͤnge des Weges zu entschuldigen seyn, wenn einige Hofnung zu einem gluͤcklichern Ausgange Statt faͤnde, und der Weg selbst leicht und angenehm waͤre.
Aber im Gegentheil wird den Lehrlingen nicht nur ein langer, sondern auch ein rauher und unebner Weg vorgezeichnet. Das große und schwere Geschaͤft wird mit einer ekelhaften und laͤstigen Arbeit angefangen, welche doch noch ertraͤglicher werden wuͤrde, wenn sie nur mit irgend einer andern Uebung abwechselte, wodurch die Seele allmaͤlig einige Nahrung erhielte, und der Verstand allmaͤlig erleuchtet wuͤrde. Aber nein! jetzt ist die Stunde zum Reden, die Zeit zum Denken ist noch nicht da: eine dicke Finsterniß ruhet auf der Seele, waͤhrend daß das Band der Zunge geloͤset wird.
*) Freilich ein sonderbarer Grund des Herrn Abts, der vermuthlich glauben muß, daß die andern Taubstummen alle verdammt werden.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 2. Berlin, 1784, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0202_1784/80>, abgerufen am 05.07.2024. |