Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie nach einer langen Pause, und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die düstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fühlte zum erstenmale die wunderbare Einschränkung, die seine damalige Existenz von der gegenwärtigen beinahe so verschieden machte, wie das Daseyn vom Nichtseyn. Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er seiner Mutter nach, und Nähe und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug, tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Stärke erwacht. Wie groß ist die Seeligkeit der Einschränkung, die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in einem stürmischen Meere: wohl dem, der in ihren Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe dem, der von unglücklicher Neugier getrieben, sich über dies dämmernde Gebürge hinauswagt, das wohlthätig seinen Horizont umschränkt. Er wird auf einer wilden stürmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle Reize für ihn verlohren. Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie nach einer langen Pause, und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die duͤstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fuͤhlte zum erstenmale die wunderbare Einschraͤnkung, die seine damalige Existenz von der gegenwaͤrtigen beinahe so verschieden machte, wie das Daseyn vom Nichtseyn. Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er seiner Mutter nach, und Naͤhe und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug, tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Staͤrke erwacht. Wie groß ist die Seeligkeit der Einschraͤnkung, die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines gluͤckliches Eiland in einem stuͤrmischen Meere: wohl dem, der in ihren Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben, sich uͤber dies daͤmmernde Gebuͤrge hinauswagt, das wohlthaͤtig seinen Horizont umschraͤnkt. Er wird auf einer wilden stuͤrmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle Reize fuͤr ihn verlohren. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0083" n="81"/><lb/> <p>Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie nach einer langen Pause, und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die duͤstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fuͤhlte zum erstenmale die wunderbare Einschraͤnkung, die seine damalige Existenz von der gegenwaͤrtigen beinahe so verschieden machte, wie das Daseyn vom Nichtseyn. </p> <p>Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er seiner Mutter nach, und Naͤhe und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug, tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Staͤrke erwacht. </p> <p>Wie groß ist die Seeligkeit der Einschraͤnkung, die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines gluͤckliches Eiland in einem stuͤrmischen Meere: wohl dem, der in ihren Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben, sich uͤber dies daͤmmernde Gebuͤrge hinauswagt, das wohlthaͤtig seinen Horizont umschraͤnkt. </p> <p>Er wird auf einer wilden stuͤrmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle Reize fuͤr ihn verlohren. </p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [81/0083]
Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie nach einer langen Pause, und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die duͤstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fuͤhlte zum erstenmale die wunderbare Einschraͤnkung, die seine damalige Existenz von der gegenwaͤrtigen beinahe so verschieden machte, wie das Daseyn vom Nichtseyn.
Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er seiner Mutter nach, und Naͤhe und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug, tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Staͤrke erwacht.
Wie groß ist die Seeligkeit der Einschraͤnkung, die wir doch aus allen Kraͤften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines gluͤckliches Eiland in einem stuͤrmischen Meere: wohl dem, der in ihren Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stuͤrme. Aber wehe dem, der von ungluͤcklicher Neugier getrieben, sich uͤber dies daͤmmernde Gebuͤrge hinauswagt, das wohlthaͤtig seinen Horizont umschraͤnkt.
Er wird auf einer wilden stuͤrmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle Reize fuͤr ihn verlohren.
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/83>, abgerufen am 16.02.2025. |