Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784.
So weit der Mann, bey dem Herr G. Hofmeister war. Was ich nun noch hinzuzufügen nöthig finde, ist folgendes: Herr G. mußte zwey Tage darauf abreisen, und kam den folgenden Tag, so bald er von der Post abgestiegen war, zu mir. Jch würde mich wundern, sagte er, ihn izt hier zu sehen, oder, setzte er hinzu: ob ich etwa schon Briefe aus F* hätte. Jch gestand es sogleich; und fast als ob er mir in die Rede fallen wollte, fragt er: was ich ihm riethe, was er thun sollte? -- Das wußte ich freilich nicht; ich verwies ihn an seinen Verwandten, von dem ich die erste Nachricht von ihm erfahren hatte. Zu diesem hinzugehen, kostete viel Ueberredung von meiner, und viel Ueberwindung von seiner Seite. Ueberhaupt stand er da vor mir in einer Gestalt, die mich innigst rührte. Beschämung, Angst, Betäubung, Unentschlossenheit und Anstrengung zum Nachsinnen waren auf seinem Gesichte;
So weit der Mann, bey dem Herr G. Hofmeister war. Was ich nun noch hinzuzufuͤgen noͤthig finde, ist folgendes: Herr G. mußte zwey Tage darauf abreisen, und kam den folgenden Tag, so bald er von der Post abgestiegen war, zu mir. Jch wuͤrde mich wundern, sagte er, ihn izt hier zu sehen, oder, setzte er hinzu: ob ich etwa schon Briefe aus F* haͤtte. Jch gestand es sogleich; und fast als ob er mir in die Rede fallen wollte, fragt er: was ich ihm riethe, was er thun sollte? ― Das wußte ich freilich nicht; ich verwies ihn an seinen Verwandten, von dem ich die erste Nachricht von ihm erfahren hatte. Zu diesem hinzugehen, kostete viel Ueberredung von meiner, und viel Ueberwindung von seiner Seite. Ueberhaupt stand er da vor mir in einer Gestalt, die mich innigst ruͤhrte. Beschaͤmung, Angst, Betaͤubung, Unentschlossenheit und Anstrengung zum Nachsinnen waren auf seinem Gesichte; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0038" n="36"/><lb/> sogar den kleinen M. oft liebkosen? Warum dies thun, wenn er eben vorher auf seiner Stube eine Grausamkeit gegen ihn ausgeuͤbt hatte? Warum den Kindern nach Veruͤbung derselben so scharf einbinden, daß sie nichts sagen sollten, oder er wollte sie massakriren. Er war sich also nicht allein bewußt, daß er es gethan hatte, sondern er wußte auch, daß es etwas schreckliches war. Sollte sich dies so allerdings mit dem Karakter derer Leute reimen lassen, von denen man sagt, sie haͤtten schlimme Jntervalla ― ― </p> <p>So weit der Mann, bey dem Herr G. Hofmeister war. Was ich nun noch hinzuzufuͤgen noͤthig finde, ist folgendes: Herr G. mußte zwey Tage darauf abreisen, und kam den folgenden Tag, so bald er von der Post abgestiegen war, zu mir. Jch wuͤrde mich wundern, sagte er, ihn izt hier zu sehen, oder, setzte er hinzu: ob ich etwa schon Briefe aus F* haͤtte. Jch gestand es sogleich; und fast als ob er mir in die Rede fallen wollte, fragt er: was ich ihm riethe, was er thun sollte? ― Das wußte ich freilich nicht; ich verwies ihn an seinen Verwandten, von dem ich die erste Nachricht von ihm erfahren hatte. Zu diesem hinzugehen, kostete viel Ueberredung von meiner, und viel Ueberwindung von seiner Seite. Ueberhaupt stand er da vor mir in einer Gestalt, die mich innigst ruͤhrte. Beschaͤmung, Angst, Betaͤubung, Unentschlossenheit und Anstrengung zum Nachsinnen waren auf seinem Gesichte;<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [36/0038]
sogar den kleinen M. oft liebkosen? Warum dies thun, wenn er eben vorher auf seiner Stube eine Grausamkeit gegen ihn ausgeuͤbt hatte? Warum den Kindern nach Veruͤbung derselben so scharf einbinden, daß sie nichts sagen sollten, oder er wollte sie massakriren. Er war sich also nicht allein bewußt, daß er es gethan hatte, sondern er wußte auch, daß es etwas schreckliches war. Sollte sich dies so allerdings mit dem Karakter derer Leute reimen lassen, von denen man sagt, sie haͤtten schlimme Jntervalla ― ―
So weit der Mann, bey dem Herr G. Hofmeister war. Was ich nun noch hinzuzufuͤgen noͤthig finde, ist folgendes: Herr G. mußte zwey Tage darauf abreisen, und kam den folgenden Tag, so bald er von der Post abgestiegen war, zu mir. Jch wuͤrde mich wundern, sagte er, ihn izt hier zu sehen, oder, setzte er hinzu: ob ich etwa schon Briefe aus F* haͤtte. Jch gestand es sogleich; und fast als ob er mir in die Rede fallen wollte, fragt er: was ich ihm riethe, was er thun sollte? ― Das wußte ich freilich nicht; ich verwies ihn an seinen Verwandten, von dem ich die erste Nachricht von ihm erfahren hatte. Zu diesem hinzugehen, kostete viel Ueberredung von meiner, und viel Ueberwindung von seiner Seite. Ueberhaupt stand er da vor mir in einer Gestalt, die mich innigst ruͤhrte. Beschaͤmung, Angst, Betaͤubung, Unentschlossenheit und Anstrengung zum Nachsinnen waren auf seinem Gesichte;
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 2, St. 1. Berlin, 1784, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0201_1784/38>, abgerufen am 22.07.2024. |