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Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783.

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gen, und die nächste in die Augen fallende Ursach
dieser Verändrungen, als handelnde Wesen denken,
und also z. B. sagen: die Bäume tragen Früch-
te
, anstatt die Früchte entstehen auf den Bäu-
men, oder es fruchtet auf den Bäumen.

Nur im höchsten Nothfalle bedient sich die
Sprache der unpersönlichen Zeitwörter, wenn uns
nehmlich z. B. selbst die nächste Ursach einer Ver-
ändrung oder Erscheinung in der Natur nicht ein-
mal bekannt ist, wie bei den Erscheinungen, die
man Geistern zuschreibt, wo man z. B. sagt: es
wandelt, es geht um
, u. s. w. und auf die Weise
durch das unpersönliche es das unbekannte et-
was
bezeichnet, welches vor uns in Dunkelheit ge-
hüllt ist.

So sagen wir auch, es ist helle, es ist
dunkel, es ist kalt, es ist warm
u. s. w. und
befestigen unsre Vorstellungen von helle, dunkel,
kalt
, und warm an dem unpersönlichen es, weil
wir sonst nichts haben, woran wir sie befestigen
könnten. Als man die Kälte zuerst empfand, war
vermuthlich nur ein einzelner Laut, wie z. B. kalt,
dasjenige, womit man sie zuerst bezeichnete. Da
man aber nachher von der Kälte redenwollte, so
machte das Bedürfniß die Wirklichkeit der Kälte
anzuzeigen, daß man das Wort ist hinzufügte.
Weil man nun die Kälte selbst nicht sah und nicht

hörte,

gen, und die naͤchste in die Augen fallende Ursach
dieser Veraͤndrungen, als handelnde Wesen denken,
und also z. B. sagen: die Baͤume tragen Fruͤch-
te
, anstatt die Fruͤchte entstehen auf den Baͤu-
men, oder es fruchtet auf den Baͤumen.

Nur im hoͤchsten Nothfalle bedient sich die
Sprache der unpersoͤnlichen Zeitwoͤrter, wenn uns
nehmlich z. B. selbst die naͤchste Ursach einer Ver-
aͤndrung oder Erscheinung in der Natur nicht ein-
mal bekannt ist, wie bei den Erscheinungen, die
man Geistern zuschreibt, wo man z. B. sagt: es
wandelt, es geht um
, u. s. w. und auf die Weise
durch das unpersoͤnliche es das unbekannte et-
was
bezeichnet, welches vor uns in Dunkelheit ge-
huͤllt ist.

So sagen wir auch, es ist helle, es ist
dunkel, es ist kalt, es ist warm
u. s. w. und
befestigen unsre Vorstellungen von helle, dunkel,
kalt
, und warm an dem unpersoͤnlichen es, weil
wir sonst nichts haben, woran wir sie befestigen
koͤnnten. Als man die Kaͤlte zuerst empfand, war
vermuthlich nur ein einzelner Laut, wie z. B. kalt,
dasjenige, womit man sie zuerst bezeichnete. Da
man aber nachher von der Kaͤlte redenwollte, so
machte das Beduͤrfniß die Wirklichkeit der Kaͤlte
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Weil man nun die Kaͤlte selbst nicht sah und nicht

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[96/0100] gen, und die naͤchste in die Augen fallende Ursach dieser Veraͤndrungen, als handelnde Wesen denken, und also z. B. sagen: die Baͤume tragen Fruͤch- te, anstatt die Fruͤchte entstehen auf den Baͤu- men, oder es fruchtet auf den Baͤumen. Nur im hoͤchsten Nothfalle bedient sich die Sprache der unpersoͤnlichen Zeitwoͤrter, wenn uns nehmlich z. B. selbst die naͤchste Ursach einer Ver- aͤndrung oder Erscheinung in der Natur nicht ein- mal bekannt ist, wie bei den Erscheinungen, die man Geistern zuschreibt, wo man z. B. sagt: es wandelt, es geht um, u. s. w. und auf die Weise durch das unpersoͤnliche es das unbekannte et- was bezeichnet, welches vor uns in Dunkelheit ge- huͤllt ist. So sagen wir auch, es ist helle, es ist dunkel, es ist kalt, es ist warm u. s. w. und befestigen unsre Vorstellungen von helle, dunkel, kalt, und warm an dem unpersoͤnlichen es, weil wir sonst nichts haben, woran wir sie befestigen koͤnnten. Als man die Kaͤlte zuerst empfand, war vermuthlich nur ein einzelner Laut, wie z. B. kalt, dasjenige, womit man sie zuerst bezeichnete. Da man aber nachher von der Kaͤlte redenwollte, so machte das Beduͤrfniß die Wirklichkeit der Kaͤlte anzuzeigen, daß man das Wort ist hinzufuͤgte. Weil man nun die Kaͤlte selbst nicht sah und nicht hoͤrte,

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Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 1. Berlin, 1783, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01_1783/100>, abgerufen am 23.11.2024.