Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
Ein Umstand war zwar hierbei verdächtig. Der Bruder war bei der Schwester allein gewesen, und hatte, ehe die versammelten Geschwister beschlossen, die Sache pflichtmäßig anzuzeigen, das Messer ins Wasser geworfen. Er wurde daher zwar auch eingezogen, allein es mittelte sich bald aus, daß er ihr Mörder weder war, noch seyn konnte, und daß bloß das Vorurtheil, ein Selbstmord und die darauf folgende gerichtliche Untersuchung bringe Schande auf eine Familie, ihn veranlaßt, das Messer wegzuwerfen, um die Sache desto besser geheim halten zu können. Jn der Mine der Verstorbenen herrschte noch Ruhe und Heiterkeit des Gemüths; keine Spur irgend einer anderweitigen Gewaltthätigkeit äußerte sich an dem Körper. Mir schien der Vorfall nicht sowohl der Tödtlichkeit der Wunde, als des Beweggrunds wegen, welcher die Verstorbene zum Selbstmord mochte ver-
Ein Umstand war zwar hierbei verdaͤchtig. Der Bruder war bei der Schwester allein gewesen, und hatte, ehe die versammelten Geschwister beschlossen, die Sache pflichtmaͤßig anzuzeigen, das Messer ins Wasser geworfen. Er wurde daher zwar auch eingezogen, allein es mittelte sich bald aus, daß er ihr Moͤrder weder war, noch seyn konnte, und daß bloß das Vorurtheil, ein Selbstmord und die darauf folgende gerichtliche Untersuchung bringe Schande auf eine Familie, ihn veranlaßt, das Messer wegzuwerfen, um die Sache desto besser geheim halten zu koͤnnen. Jn der Mine der Verstorbenen herrschte noch Ruhe und Heiterkeit des Gemuͤths; keine Spur irgend einer anderweitigen Gewaltthaͤtigkeit aͤußerte sich an dem Koͤrper. Mir schien der Vorfall nicht sowohl der Toͤdtlichkeit der Wunde, als des Beweggrunds wegen, welcher die Verstorbene zum Selbstmord mochte ver- <TEI> <text> <body> <div> <div> <p><pb facs="#f0033" n="29"/><lb/> naͤherer Untersuchung, daß die Verstorbene sich mit dem ihr gereichten Messer eine Wunde in den Unterleib beigebracht, und sich verblutet hatte. Die Obrigkeit, welcher der Zufall gemeldet wurde, ließ sogleich eine Obduction anstellen. Man fand eine Wunde am Unterleib vier Zoll lang von außen, drey von innen, durch welche die Gedaͤrme hervorgedrungen waren; sie war ungleich und folglich durch wiederholtes Ansetzen des Messers verursacht. Am untersten Winkel der Wunde war die <hi rendition="#aq">Arteria epigastrica</hi> verletzt, und daher die Verblutung entstanden. </p> <p>Ein Umstand war zwar hierbei verdaͤchtig. Der Bruder war bei der Schwester allein gewesen, und hatte, ehe die versammelten Geschwister beschlossen, die Sache pflichtmaͤßig anzuzeigen, das Messer ins Wasser geworfen. Er wurde daher zwar auch eingezogen, allein es mittelte sich bald aus, daß er ihr Moͤrder weder war, noch seyn konnte, und daß bloß das Vorurtheil, ein Selbstmord und die darauf folgende gerichtliche Untersuchung bringe Schande auf eine Familie, ihn veranlaßt, das Messer wegzuwerfen, um die Sache desto besser geheim halten zu koͤnnen. Jn der Mine der Verstorbenen herrschte noch Ruhe und Heiterkeit des Gemuͤths; keine Spur irgend einer anderweitigen Gewaltthaͤtigkeit aͤußerte sich an dem Koͤrper. </p> <p>Mir schien der Vorfall nicht sowohl der Toͤdtlichkeit der Wunde, als des Beweggrunds wegen, welcher die Verstorbene zum Selbstmord mochte ver-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [29/0033]
naͤherer Untersuchung, daß die Verstorbene sich mit dem ihr gereichten Messer eine Wunde in den Unterleib beigebracht, und sich verblutet hatte. Die Obrigkeit, welcher der Zufall gemeldet wurde, ließ sogleich eine Obduction anstellen. Man fand eine Wunde am Unterleib vier Zoll lang von außen, drey von innen, durch welche die Gedaͤrme hervorgedrungen waren; sie war ungleich und folglich durch wiederholtes Ansetzen des Messers verursacht. Am untersten Winkel der Wunde war die Arteria epigastrica verletzt, und daher die Verblutung entstanden.
Ein Umstand war zwar hierbei verdaͤchtig. Der Bruder war bei der Schwester allein gewesen, und hatte, ehe die versammelten Geschwister beschlossen, die Sache pflichtmaͤßig anzuzeigen, das Messer ins Wasser geworfen. Er wurde daher zwar auch eingezogen, allein es mittelte sich bald aus, daß er ihr Moͤrder weder war, noch seyn konnte, und daß bloß das Vorurtheil, ein Selbstmord und die darauf folgende gerichtliche Untersuchung bringe Schande auf eine Familie, ihn veranlaßt, das Messer wegzuwerfen, um die Sache desto besser geheim halten zu koͤnnen. Jn der Mine der Verstorbenen herrschte noch Ruhe und Heiterkeit des Gemuͤths; keine Spur irgend einer anderweitigen Gewaltthaͤtigkeit aͤußerte sich an dem Koͤrper.
Mir schien der Vorfall nicht sowohl der Toͤdtlichkeit der Wunde, als des Beweggrunds wegen, welcher die Verstorbene zum Selbstmord mochte ver-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/33>, abgerufen am 16.07.2024. |