Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783.
Es hats aber niemand gesehen, schrieb ich ihr auf, vor wem fürchtet er sich denn? Doch, zeigte sie an, Gott hat es gesehen. Und der Gott, bezeichnete ich ihr, ist auch Beherrscher über unser Gewissen, und keiner kann, wenn er Böses gethan, der Unruhe desselben sich entziehen. Dagegen wenn wir nichts Böses gethan haben, und es kommt denn auch wegen einer gestohlnen Sache Nachfrage, so können wir ganz ruhig seyn, das wäre laut des Gewissens sein untrügliches Kennzeichen, daß ein Gott sey. Hierauf fing ich an, ihr die Gebote eins nach dem andern begreiflich zu machen, welche sie auch bald fassete, und sie suchte selbst jeden ähnlichen Fall in die Gebote einzurücken. Z.E. nach dem ersten Gebote, daß es nicht erlaubt wäre, Bilder anzubeten; nach dem andern, daß es so viele Leute gäbe,
Es hats aber niemand gesehen, schrieb ich ihr auf, vor wem fuͤrchtet er sich denn? Doch, zeigte sie an, Gott hat es gesehen. Und der Gott, bezeichnete ich ihr, ist auch Beherrscher uͤber unser Gewissen, und keiner kann, wenn er Boͤses gethan, der Unruhe desselben sich entziehen. Dagegen wenn wir nichts Boͤses gethan haben, und es kommt denn auch wegen einer gestohlnen Sache Nachfrage, so koͤnnen wir ganz ruhig seyn, das waͤre laut des Gewissens sein untruͤgliches Kennzeichen, daß ein Gott sey. Hierauf fing ich an, ihr die Gebote eins nach dem andern begreiflich zu machen, welche sie auch bald fassete, und sie suchte selbst jeden aͤhnlichen Fall in die Gebote einzuruͤcken. Z.E. nach dem ersten Gebote, daß es nicht erlaubt waͤre, Bilder anzubeten; nach dem andern, daß es so viele Leute gaͤbe, <TEI> <text> <body> <div> <div> <div> <p><pb facs="#f0100" n="96"/><lb/> ließe? Dagegen stellte ich ihr weiter vor, wenn ein Kaufmann aus seinem Laden tausend Thaler Geld, die er redlich aufgenommen, auf seinem Tische liegen haͤtte, und jemand kaͤme und klopfte an, so wuͤrde der sein Geld nicht verbergen, sondern ungescheut rufen: herein! Und solche Faͤlle giengen wir sehr viele durch. Nun ließ ich sie selbst urtheilen, ob der Dieb ein so ruhiges Herz und Gewissen habe, als der Kaufmann? Nein! zeigte sie an, der Dieb hat was Boͤses gethan, und der Kaufmann nicht. </p> <p>Es hats aber niemand gesehen, schrieb ich ihr auf, vor wem fuͤrchtet er sich denn? Doch, zeigte sie an, Gott hat es gesehen. Und der Gott, bezeichnete ich ihr, ist auch Beherrscher uͤber unser Gewissen, und keiner kann, wenn er Boͤses gethan, der Unruhe desselben sich entziehen. Dagegen wenn wir nichts Boͤses gethan haben, und es kommt denn auch wegen einer gestohlnen Sache Nachfrage, so koͤnnen wir ganz ruhig seyn, das waͤre laut des Gewissens sein untruͤgliches Kennzeichen, daß ein Gott sey. </p> <p>Hierauf fing ich an, ihr die Gebote eins nach dem andern begreiflich zu machen, welche sie auch bald fassete, und sie suchte selbst jeden aͤhnlichen Fall in die Gebote einzuruͤcken. Z.E. nach dem ersten Gebote, daß es nicht erlaubt waͤre, Bilder anzubeten; nach dem andern, daß es so viele Leute gaͤbe,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0100]
ließe? Dagegen stellte ich ihr weiter vor, wenn ein Kaufmann aus seinem Laden tausend Thaler Geld, die er redlich aufgenommen, auf seinem Tische liegen haͤtte, und jemand kaͤme und klopfte an, so wuͤrde der sein Geld nicht verbergen, sondern ungescheut rufen: herein! Und solche Faͤlle giengen wir sehr viele durch. Nun ließ ich sie selbst urtheilen, ob der Dieb ein so ruhiges Herz und Gewissen habe, als der Kaufmann? Nein! zeigte sie an, der Dieb hat was Boͤses gethan, und der Kaufmann nicht.
Es hats aber niemand gesehen, schrieb ich ihr auf, vor wem fuͤrchtet er sich denn? Doch, zeigte sie an, Gott hat es gesehen. Und der Gott, bezeichnete ich ihr, ist auch Beherrscher uͤber unser Gewissen, und keiner kann, wenn er Boͤses gethan, der Unruhe desselben sich entziehen. Dagegen wenn wir nichts Boͤses gethan haben, und es kommt denn auch wegen einer gestohlnen Sache Nachfrage, so koͤnnen wir ganz ruhig seyn, das waͤre laut des Gewissens sein untruͤgliches Kennzeichen, daß ein Gott sey.
Hierauf fing ich an, ihr die Gebote eins nach dem andern begreiflich zu machen, welche sie auch bald fassete, und sie suchte selbst jeden aͤhnlichen Fall in die Gebote einzuruͤcken. Z.E. nach dem ersten Gebote, daß es nicht erlaubt waͤre, Bilder anzubeten; nach dem andern, daß es so viele Leute gaͤbe,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/100 |
Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 3. Berlin, 1783, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0103_1783/100>, abgerufen am 16.02.2025. |