Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

Jch habe von meiner ersten Kindheit an, ein schlechtes Gesicht gehabt, und ehemals noch im höhern Grad als jetzt; denn ich erinnere mich, daß ich in meinem sechsten und siebenten Jahr nicht zwey Buchstaben in der hallischen kleinen Bibel deutlich unterscheiden konnte, die ich doch jetzt, obgleich nicht ohne alle Anstrengung deutlich genug erkenne.

Auf diese Unvollkommenheit meines Gesichts würde ich die ganze Schuld der bemerkten Unvollkommenheit meiner Erinnerungen schieben, wenn mir nicht jene und andere Erfahrungen, die ich gemacht habe, bei einer genauern Prüfung die sonderbarscheinende Behauptung abnöthigen: daß es bei Fixirung sinnlicher Vorstellungen nicht auf die Lebhaftigkeit des sinnlichen Eindrucks, nicht auf die innere Deutlichkeit der Vorstellungen ankömmt, und daß Lebhaftigkeit und Deutlichkeit höchstens nur mitwirkende Ursachen sind. Jch will damit nicht läugnen, daß beide unsern Vorstellungen einige Dauerhaftigkeit geben, dieß zeigen tausend Erfahrungen: aber jene unauslöschlichen Eindrücke, von denen ich rede, bringen sie nicht hervor. Die erste Ursache von diesen muß tiefer liegen, es sey nun in der Organisation des Gehirns, oder in der innersten Anlage der Seelenkräfte. Meine Gründe sind folgende:

Jch habe so viele Versuche und Beobachtungen mit meinen Augen gemacht, daß ich den Grund ihrer Unvollkommenheit mit vieler Zuverläßigkeit


Jch habe von meiner ersten Kindheit an, ein schlechtes Gesicht gehabt, und ehemals noch im hoͤhern Grad als jetzt; denn ich erinnere mich, daß ich in meinem sechsten und siebenten Jahr nicht zwey Buchstaben in der hallischen kleinen Bibel deutlich unterscheiden konnte, die ich doch jetzt, obgleich nicht ohne alle Anstrengung deutlich genug erkenne.

Auf diese Unvollkommenheit meines Gesichts wuͤrde ich die ganze Schuld der bemerkten Unvollkommenheit meiner Erinnerungen schieben, wenn mir nicht jene und andere Erfahrungen, die ich gemacht habe, bei einer genauern Pruͤfung die sonderbarscheinende Behauptung abnoͤthigen: daß es bei Fixirung sinnlicher Vorstellungen nicht auf die Lebhaftigkeit des sinnlichen Eindrucks, nicht auf die innere Deutlichkeit der Vorstellungen ankoͤmmt, und daß Lebhaftigkeit und Deutlichkeit hoͤchstens nur mitwirkende Ursachen sind. Jch will damit nicht laͤugnen, daß beide unsern Vorstellungen einige Dauerhaftigkeit geben, dieß zeigen tausend Erfahrungen: aber jene unausloͤschlichen Eindruͤcke, von denen ich rede, bringen sie nicht hervor. Die erste Ursache von diesen muß tiefer liegen, es sey nun in der Organisation des Gehirns, oder in der innersten Anlage der Seelenkraͤfte. Meine Gruͤnde sind folgende:

Jch habe so viele Versuche und Beobachtungen mit meinen Augen gemacht, daß ich den Grund ihrer Unvollkommenheit mit vieler Zuverlaͤßigkeit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div>
          <pb facs="#f0091" n="87"/><lb/>
          <p>Jch habe von meiner ersten Kindheit an, ein schlechtes Gesicht gehabt, und                         ehemals noch im ho&#x0364;hern Grad als jetzt; denn ich erinnere mich, daß ich in                         meinem sechsten und siebenten Jahr nicht zwey Buchstaben in der hallischen                         kleinen Bibel deutlich unterscheiden konnte, die ich doch jetzt, obgleich                         nicht ohne alle Anstrengung deutlich genug erkenne. </p>
          <p>Auf diese Unvollkommenheit meines Gesichts wu&#x0364;rde ich die ganze Schuld der                         bemerkten Unvollkommenheit meiner Erinnerungen schieben, wenn mir nicht jene                         und andere Erfahrungen, die ich gemacht habe, bei einer genauern Pru&#x0364;fung die                         sonderbarscheinende Behauptung abno&#x0364;thigen: <hi rendition="#b">daß es bei                             Fixirung sinnlicher Vorstellungen nicht auf die Lebhaftigkeit des                             sinnlichen Eindrucks, nicht auf die innere Deutlichkeit der                             Vorstellungen anko&#x0364;mmt, und daß Lebhaftigkeit und Deutlichkeit ho&#x0364;chstens                             nur mitwirkende Ursachen sind.</hi> Jch will damit nicht la&#x0364;ugnen, daß                         beide unsern Vorstellungen <hi rendition="#b">einige</hi> Dauerhaftigkeit                         geben, dieß zeigen tausend Erfahrungen: aber jene <hi rendition="#b">unauslo&#x0364;schlichen</hi> Eindru&#x0364;cke, von denen ich rede, bringen sie nicht                         hervor. Die erste Ursache von diesen muß tiefer liegen, es sey nun in der                         Organisation des Gehirns, oder in der innersten Anlage der Seelenkra&#x0364;fte.                         Meine Gru&#x0364;nde sind folgende: </p>
          <p>Jch habe so viele Versuche und Beobachtungen mit meinen Augen gemacht, daß                         ich den Grund ihrer Unvollkommenheit mit vieler Zuverla&#x0364;ßigkeit<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[87/0091] Jch habe von meiner ersten Kindheit an, ein schlechtes Gesicht gehabt, und ehemals noch im hoͤhern Grad als jetzt; denn ich erinnere mich, daß ich in meinem sechsten und siebenten Jahr nicht zwey Buchstaben in der hallischen kleinen Bibel deutlich unterscheiden konnte, die ich doch jetzt, obgleich nicht ohne alle Anstrengung deutlich genug erkenne. Auf diese Unvollkommenheit meines Gesichts wuͤrde ich die ganze Schuld der bemerkten Unvollkommenheit meiner Erinnerungen schieben, wenn mir nicht jene und andere Erfahrungen, die ich gemacht habe, bei einer genauern Pruͤfung die sonderbarscheinende Behauptung abnoͤthigen: daß es bei Fixirung sinnlicher Vorstellungen nicht auf die Lebhaftigkeit des sinnlichen Eindrucks, nicht auf die innere Deutlichkeit der Vorstellungen ankoͤmmt, und daß Lebhaftigkeit und Deutlichkeit hoͤchstens nur mitwirkende Ursachen sind. Jch will damit nicht laͤugnen, daß beide unsern Vorstellungen einige Dauerhaftigkeit geben, dieß zeigen tausend Erfahrungen: aber jene unausloͤschlichen Eindruͤcke, von denen ich rede, bringen sie nicht hervor. Die erste Ursache von diesen muß tiefer liegen, es sey nun in der Organisation des Gehirns, oder in der innersten Anlage der Seelenkraͤfte. Meine Gruͤnde sind folgende: Jch habe so viele Versuche und Beobachtungen mit meinen Augen gemacht, daß ich den Grund ihrer Unvollkommenheit mit vieler Zuverlaͤßigkeit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung, University of Glasgow: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/91
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/91>, abgerufen am 02.05.2024.