Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783.
Der Begrif eines Cirkels ist einer der zusammengesetztesten und schwersten Begriffe, die wir haben. Man versuche es so lange man will, wenn man nicht auf dem Meere ist, sich rund umher nichts als Himmel und Wasser zu denken, und man wird bemerken, daß auf einer Seite, in unsrer Vorstellung immer noch ein Stück Land übrig bleiben wird, welches wir nicht daraus verbannen können. Unser Begrif von dem unendlichen Zirkel muß sich an etwas Endlichen festhalten, wenn er nicht verschwinden soll. Wir sagen: die Bäume stehen um das Haus, und ob nun gleich diese Bäume auf einmal um das Haus her sind, so können wir sie uns doch nicht auf einmal, als um das Haus herstehend, denken, sondern müssen sie in unsern Gedanken gleichsam fortrücken lassen, bis sie das ganze Haus umgeben haben. Dieß kömmt daher, weil um ein zusammengesetzter Begrif ist, der aus den Begriffen von hinter, vor, neben u.s.w. besteht. Ehe ich mir also denken kann, daß die Bäume um das Haus stehen, muß ich mir erst vorher nacheinander ge-
Der Begrif eines Cirkels ist einer der zusammengesetztesten und schwersten Begriffe, die wir haben. Man versuche es so lange man will, wenn man nicht auf dem Meere ist, sich rund umher nichts als Himmel und Wasser zu denken, und man wird bemerken, daß auf einer Seite, in unsrer Vorstellung immer noch ein Stuͤck Land uͤbrig bleiben wird, welches wir nicht daraus verbannen koͤnnen. Unser Begrif von dem unendlichen Zirkel muß sich an etwas Endlichen festhalten, wenn er nicht verschwinden soll. Wir sagen: die Baͤume stehen um das Haus, und ob nun gleich diese Baͤume auf einmal um das Haus her sind, so koͤnnen wir sie uns doch nicht auf einmal, als um das Haus herstehend, denken, sondern muͤssen sie in unsern Gedanken gleichsam fortruͤcken lassen, bis sie das ganze Haus umgeben haben. Dieß koͤmmt daher, weil um ein zusammengesetzter Begrif ist, der aus den Begriffen von hinter, vor, neben u.s.w. besteht. Ehe ich mir also denken kann, daß die Baͤume um das Haus stehen, muß ich mir erst vorher nacheinander ge- <TEI> <text> <body> <div> <div> <div> <p><pb facs="#f0107" n="103"/><lb/> schiedene Versuche gemacht, die ich hier weiter auszufuͤhren gedenke. Zu dem Ende will ich jetzt das Wesen der Praͤposition <hi rendition="#b">um</hi> oder vielmehr unsrer Vorstellung bei dem Wort <hi rendition="#b">um,</hi> etwas naͤher zu bestimmen suchen. </p> <p>Der Begrif eines Cirkels ist einer der zusammengesetztesten und schwersten Begriffe, die wir haben. Man versuche es so lange man will, wenn man nicht auf dem Meere ist, sich <hi rendition="#b">rund</hi> umher nichts als Himmel und Wasser zu denken, und man wird bemerken, daß auf einer Seite, in unsrer Vorstellung immer noch ein Stuͤck Land uͤbrig bleiben wird, welches wir nicht daraus verbannen koͤnnen. Unser Begrif von dem unendlichen Zirkel muß sich an etwas Endlichen festhalten, wenn er nicht verschwinden soll. </p> <p>Wir sagen: <hi rendition="#b">die Baͤume stehen um das Haus,</hi> und ob nun gleich diese Baͤume <hi rendition="#b">auf einmal</hi> um das Haus her <hi rendition="#b">sind,</hi> so koͤnnen wir sie uns doch nicht auf <hi rendition="#b">einmal,</hi> als um das Haus herstehend, denken, sondern muͤssen sie <hi rendition="#b">in unsern Gedanken</hi> gleichsam <hi rendition="#b">fortruͤcken</hi> lassen, bis sie das ganze Haus umgeben haben. </p> <p>Dieß koͤmmt daher, weil <hi rendition="#b">um</hi> ein zusammengesetzter Begrif ist, der aus den Begriffen von <hi rendition="#b">hinter, vor, neben</hi> u.s.w. besteht. Ehe ich mir also denken kann, daß die Baͤume <hi rendition="#b">um</hi> das Haus stehen, muß ich mir erst vorher nacheinander ge-<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [103/0107]
schiedene Versuche gemacht, die ich hier weiter auszufuͤhren gedenke. Zu dem Ende will ich jetzt das Wesen der Praͤposition um oder vielmehr unsrer Vorstellung bei dem Wort um, etwas naͤher zu bestimmen suchen.
Der Begrif eines Cirkels ist einer der zusammengesetztesten und schwersten Begriffe, die wir haben. Man versuche es so lange man will, wenn man nicht auf dem Meere ist, sich rund umher nichts als Himmel und Wasser zu denken, und man wird bemerken, daß auf einer Seite, in unsrer Vorstellung immer noch ein Stuͤck Land uͤbrig bleiben wird, welches wir nicht daraus verbannen koͤnnen. Unser Begrif von dem unendlichen Zirkel muß sich an etwas Endlichen festhalten, wenn er nicht verschwinden soll.
Wir sagen: die Baͤume stehen um das Haus, und ob nun gleich diese Baͤume auf einmal um das Haus her sind, so koͤnnen wir sie uns doch nicht auf einmal, als um das Haus herstehend, denken, sondern muͤssen sie in unsern Gedanken gleichsam fortruͤcken lassen, bis sie das ganze Haus umgeben haben.
Dieß koͤmmt daher, weil um ein zusammengesetzter Begrif ist, der aus den Begriffen von hinter, vor, neben u.s.w. besteht. Ehe ich mir also denken kann, daß die Baͤume um das Haus stehen, muß ich mir erst vorher nacheinander ge-
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 1, St. 2. Berlin, 1783, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde0102_1783/107>, abgerufen am 16.02.2025. |