Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 2. Berlin, 1793.
Aber dürfen wir eine solche formlose Materie annehmen, wenn wir sie nirgend finden, und kein Mittel haben, uns von ihrer Realität zu überzeugen? -- Wir dürfen es keinesweges. Fehlt es uns aber darum an einem Mittel die Farben wahrzunehmen, weil wir nicht das Ohr dazu gebrauchen können? Freilich, um das von dem Subjekt der Kunst so ganz verschiedene Subjekt der Natur wahrzunehmen, bedarf es eines andern, als des äusserlichen Sinnes: es wird nur durch das Auge der Vernunft erblickt, dem es aber nicht entgehen kann. Wie sich die Form der Kunst zu der Materie der Kunst verhält; so verhält sich, unter der gehörigen Einschränkung, auch die Form der Natur zu der Materie der Natur. Welche unzählige Menge von Verwandlungen sehen wir nicht die Kunst mit einer einzigen Materie vornehmen! Hier liegt der gefällte rohe Stamm; dort stehet ein ausgeschmückter, mit dem kostbarsten Geräthe angefüllter Pallast. Aehnliche Verwandlungen zeigt uns die Natur. Was erst Saamen war, wird Gras, hierauf Aehre, alsdann Brodt -- Nahrungssaft -- Blut -- thierischer Saamen -- ein Embrio -- ein Mensch -- ein Leichnam; dann wieder Erde, Stein, oder andere Masse, und so fort. Hier erkennen wir also Etwas, welches sich in alle diese
Aber duͤrfen wir eine solche formlose Materie annehmen, wenn wir sie nirgend finden, und kein Mittel haben, uns von ihrer Realitaͤt zu uͤberzeugen? — Wir duͤrfen es keinesweges. Fehlt es uns aber darum an einem Mittel die Farben wahrzunehmen, weil wir nicht das Ohr dazu gebrauchen koͤnnen? Freilich, um das von dem Subjekt der Kunst so ganz verschiedene Subjekt der Natur wahrzunehmen, bedarf es eines andern, als des aͤusserlichen Sinnes: es wird nur durch das Auge der Vernunft erblickt, dem es aber nicht entgehen kann. Wie sich die Form der Kunst zu der Materie der Kunst verhaͤlt; so verhaͤlt sich, unter der gehoͤrigen Einschraͤnkung, auch die Form der Natur zu der Materie der Natur. Welche unzaͤhlige Menge von Verwandlungen sehen wir nicht die Kunst mit einer einzigen Materie vornehmen! Hier liegt der gefaͤllte rohe Stamm; dort stehet ein ausgeschmuͤckter, mit dem kostbarsten Geraͤthe angefuͤllter Pallast. Aehnliche Verwandlungen zeigt uns die Natur. Was erst Saamen war, wird Gras, hierauf Aehre, alsdann Brodt — Nahrungssaft — Blut — thierischer Saamen — ein Embrio — ein Mensch — ein Leichnam; dann wieder Erde, Stein, oder andere Masse, und so fort. Hier erkennen wir also Etwas, welches sich in alle diese <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0073" n="73"/><lb/> denheiten und Bestimmungen durch die Form erst geben muß.</p> <p>Aber duͤrfen wir eine solche formlose Materie annehmen, wenn wir sie nirgend finden, und kein Mittel haben, uns von ihrer Realitaͤt zu uͤberzeugen? — Wir duͤrfen es keinesweges. Fehlt es uns aber darum an einem Mittel die Farben wahrzunehmen, weil wir nicht das Ohr dazu gebrauchen koͤnnen? Freilich, um das von dem Subjekt der Kunst so ganz verschiedene Subjekt der Natur wahrzunehmen, bedarf es eines andern, als des aͤusserlichen Sinnes: es wird nur durch das Auge der Vernunft erblickt, dem es aber nicht entgehen kann.</p> <p>Wie sich die Form der Kunst zu der Materie der Kunst verhaͤlt; so verhaͤlt sich, unter der gehoͤrigen Einschraͤnkung, auch die Form der Natur zu der Materie der Natur. Welche unzaͤhlige Menge von Verwandlungen sehen wir nicht die Kunst mit einer einzigen Materie vornehmen! Hier liegt der gefaͤllte rohe Stamm; dort stehet ein ausgeschmuͤckter, mit dem kostbarsten Geraͤthe angefuͤllter Pallast. Aehnliche Verwandlungen zeigt uns die Natur. Was erst Saamen war, wird Gras, hierauf Aehre, alsdann Brodt — Nahrungssaft — Blut — thierischer Saamen — ein Embrio — ein Mensch — ein Leichnam; dann wieder Erde, Stein, oder andere Masse, und so fort. Hier erkennen wir also Etwas, welches sich in alle diese<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [73/0073]
denheiten und Bestimmungen durch die Form erst geben muß.
Aber duͤrfen wir eine solche formlose Materie annehmen, wenn wir sie nirgend finden, und kein Mittel haben, uns von ihrer Realitaͤt zu uͤberzeugen? — Wir duͤrfen es keinesweges. Fehlt es uns aber darum an einem Mittel die Farben wahrzunehmen, weil wir nicht das Ohr dazu gebrauchen koͤnnen? Freilich, um das von dem Subjekt der Kunst so ganz verschiedene Subjekt der Natur wahrzunehmen, bedarf es eines andern, als des aͤusserlichen Sinnes: es wird nur durch das Auge der Vernunft erblickt, dem es aber nicht entgehen kann.
Wie sich die Form der Kunst zu der Materie der Kunst verhaͤlt; so verhaͤlt sich, unter der gehoͤrigen Einschraͤnkung, auch die Form der Natur zu der Materie der Natur. Welche unzaͤhlige Menge von Verwandlungen sehen wir nicht die Kunst mit einer einzigen Materie vornehmen! Hier liegt der gefaͤllte rohe Stamm; dort stehet ein ausgeschmuͤckter, mit dem kostbarsten Geraͤthe angefuͤllter Pallast. Aehnliche Verwandlungen zeigt uns die Natur. Was erst Saamen war, wird Gras, hierauf Aehre, alsdann Brodt — Nahrungssaft — Blut — thierischer Saamen — ein Embrio — ein Mensch — ein Leichnam; dann wieder Erde, Stein, oder andere Masse, und so fort. Hier erkennen wir also Etwas, welches sich in alle diese
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(2015-06-09T11:00:00Z)
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