Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793.
Jch. Jch weiß was Sie sagen wollen. Damals lebt' ich still und schien tugendhaft, und that meine Pflichten. Man glaubte, ich bereue meinen Fehler, und sei auf dem Wege der Besserung, und nun meinen Sie, solle ich so fortgefahren seyn. Lieber Herr Hofrath! Jch übte eine menschliche Tugend, ihr Preis wurde mir entrückt, ich mochte mich nicht mehr um ein leeres Ziel entathmen. Er. Preis der Tugend! -- Sie ist selbst Preis. Jch. Gewiß! das muß sie nach meiner Ueberzeugung allerdings seyn, und eben darum glaub' ich daß ich nie tugendhaft war. Preis! Ohne Zweifel! Preis der Vollkommenheit. Erst lassen Sie uns diese erlangen, dann kann erst von der Tugend die Rede seyn, in so fern sie Preis genannt zu werden verdient. Was man jetzt von einem tugendhaften Mann fordert, ist, die Wahrheit zu gestehen, nichts als eine blinde Grausamkeit gegen sich selbst. Ewiger Krieg mit Begierden und Leidenschaften, ach! die ihm doch alle so lieb sind. Man ehrt die Thräne des Helden, die er nach gewonnener Schlacht, auf dem Wahlplatz, über seine Erschlagenen vergießt; und soll der Mensch nicht trauern um eine Leidenschaft, die er, wie ein liebliches Mädgen, den Verhältnissen, der Barbarei unserer Einsichten, unserer Gesetze und Verfassungen opfern mußte?
Jch. Jch weiß was Sie sagen wollen. Damals lebt' ich still und schien tugendhaft, und that meine Pflichten. Man glaubte, ich bereue meinen Fehler, und sei auf dem Wege der Besserung, und nun meinen Sie, solle ich so fortgefahren seyn. Lieber Herr Hofrath! Jch uͤbte eine menschliche Tugend, ihr Preis wurde mir entruͤckt, ich mochte mich nicht mehr um ein leeres Ziel entathmen. Er. Preis der Tugend! — Sie ist selbst Preis. Jch. Gewiß! das muß sie nach meiner Ueberzeugung allerdings seyn, und eben darum glaub' ich daß ich nie tugendhaft war. Preis! Ohne Zweifel! Preis der Vollkommenheit. Erst lassen Sie uns diese erlangen, dann kann erst von der Tugend die Rede seyn, in so fern sie Preis genannt zu werden verdient. Was man jetzt von einem tugendhaften Mann fordert, ist, die Wahrheit zu gestehen, nichts als eine blinde Grausamkeit gegen sich selbst. Ewiger Krieg mit Begierden und Leidenschaften, ach! die ihm doch alle so lieb sind. Man ehrt die Thraͤne des Helden, die er nach gewonnener Schlacht, auf dem Wahlplatz, uͤber seine Erschlagenen vergießt; und soll der Mensch nicht trauern um eine Leidenschaft, die er, wie ein liebliches Maͤdgen, den Verhaͤltnissen, der Barbarei unserer Einsichten, unserer Gesetze und Verfassungen opfern mußte? <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0086" n="84"/><lb/> innern Sie sich noch des ersten Jahres in H...? Damals waren Sie doch wohl gluͤcklicher? —</p> <p><hi rendition="#b">Jch.</hi> Jch weiß was Sie sagen wollen. Damals lebt' ich still und schien tugendhaft, und that meine Pflichten. Man glaubte, ich bereue meinen Fehler, und sei auf dem Wege der Besserung, und nun meinen Sie, solle ich so fortgefahren seyn. Lieber Herr Hofrath! Jch uͤbte eine menschliche Tugend, ihr Preis wurde mir entruͤckt, ich mochte mich nicht mehr um ein leeres Ziel entathmen.</p> <p><hi rendition="#b">Er.</hi> Preis der Tugend! — Sie ist selbst Preis.</p> <p><hi rendition="#b">Jch.</hi> Gewiß! das muß sie nach meiner Ueberzeugung allerdings seyn, und eben darum glaub' ich daß ich nie tugendhaft war. Preis! Ohne Zweifel! Preis der Vollkommenheit. Erst lassen Sie uns diese erlangen, dann kann erst von der Tugend die Rede seyn, in so fern sie Preis genannt zu werden verdient. Was man jetzt von einem tugendhaften Mann fordert, ist, die Wahrheit zu gestehen, nichts als eine blinde Grausamkeit gegen sich selbst. Ewiger Krieg mit Begierden und Leidenschaften, ach! die ihm doch alle so lieb sind. Man ehrt die Thraͤne des Helden, die er nach gewonnener Schlacht, auf dem Wahlplatz, uͤber seine Erschlagenen vergießt; und soll der Mensch nicht trauern um eine Leidenschaft, die er, wie ein liebliches Maͤdgen, den Verhaͤltnissen, der Barbarei unserer Einsichten, unserer Gesetze und Verfassungen opfern mußte?<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [84/0086]
innern Sie sich noch des ersten Jahres in H...? Damals waren Sie doch wohl gluͤcklicher? —
Jch. Jch weiß was Sie sagen wollen. Damals lebt' ich still und schien tugendhaft, und that meine Pflichten. Man glaubte, ich bereue meinen Fehler, und sei auf dem Wege der Besserung, und nun meinen Sie, solle ich so fortgefahren seyn. Lieber Herr Hofrath! Jch uͤbte eine menschliche Tugend, ihr Preis wurde mir entruͤckt, ich mochte mich nicht mehr um ein leeres Ziel entathmen.
Er. Preis der Tugend! — Sie ist selbst Preis.
Jch. Gewiß! das muß sie nach meiner Ueberzeugung allerdings seyn, und eben darum glaub' ich daß ich nie tugendhaft war. Preis! Ohne Zweifel! Preis der Vollkommenheit. Erst lassen Sie uns diese erlangen, dann kann erst von der Tugend die Rede seyn, in so fern sie Preis genannt zu werden verdient. Was man jetzt von einem tugendhaften Mann fordert, ist, die Wahrheit zu gestehen, nichts als eine blinde Grausamkeit gegen sich selbst. Ewiger Krieg mit Begierden und Leidenschaften, ach! die ihm doch alle so lieb sind. Man ehrt die Thraͤne des Helden, die er nach gewonnener Schlacht, auf dem Wahlplatz, uͤber seine Erschlagenen vergießt; und soll der Mensch nicht trauern um eine Leidenschaft, die er, wie ein liebliches Maͤdgen, den Verhaͤltnissen, der Barbarei unserer Einsichten, unserer Gesetze und Verfassungen opfern mußte?
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Zitationshilfe: | Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/86>, abgerufen am 27.07.2024. |