Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite


viele Anziehung für uns hat, und die Vernunft wird hierdurch ebenfalls in ihren Fortschritten gestört. Durch diese Hindernisse wird die Seele von ihren angestellten Untersuchungen ganz abgebracht; die weilende Einbildungskraft und die Selbstmacht, welche durch die vorigen Operationen rege wurden, verbinden sich mit einander und erzeugen die Fantasie; denn diese ist nichts anders als eine Einbildungskraft, welche weilend genug ist, um Bilder vollkommen auszumahlen, mit Selbstmacht vereint, um Fortschritte zu machen, und von einer Vernunft begleitet, welche keine Zweifel erregt, als solche, die dem Entwurfe der Einbildungskraft zu statten kommen. Diese vorerwähnten Schwierigkeiten stehn der Erlernung einer neuen Wissenschaft, und der Fortsetzung einer Untersuchung entgegen, auch enthalten sie die Ursache, daß Schulknaben, nachdem sie lange studirt, eine Anwandlung von Fantasie -- in dem eben erklärten Sinn -- bekommen, welche eine Zerstreuung nöthig macht.

Bey Erlernung der reinen Mathematik sind jedoch diese Schwierigkeiten nicht vorhanden; denn in der Geometrie fallen Anschauungen und Begriffe ineinander; die Anschauungen unterstützen also noch die Vernunft, und die weilende Einbildungskraft hat gar keine Gelegenheit sie in Naturbilder zu verwandeln; noch hat die Geometrie Begriffe, welche Zweifel erregen. Jn der Arithmetik und gemeinen Algebra haben die Begriffe gar keine Anschauungen; die weilende Einbildungskraft kommt also auch in


viele Anziehung fuͤr uns hat, und die Vernunft wird hierdurch ebenfalls in ihren Fortschritten gestoͤrt. Durch diese Hindernisse wird die Seele von ihren angestellten Untersuchungen ganz abgebracht; die weilende Einbildungskraft und die Selbstmacht, welche durch die vorigen Operationen rege wurden, verbinden sich mit einander und erzeugen die Fantasie; denn diese ist nichts anders als eine Einbildungskraft, welche weilend genug ist, um Bilder vollkommen auszumahlen, mit Selbstmacht vereint, um Fortschritte zu machen, und von einer Vernunft begleitet, welche keine Zweifel erregt, als solche, die dem Entwurfe der Einbildungskraft zu statten kommen. Diese vorerwaͤhnten Schwierigkeiten stehn der Erlernung einer neuen Wissenschaft, und der Fortsetzung einer Untersuchung entgegen, auch enthalten sie die Ursache, daß Schulknaben, nachdem sie lange studirt, eine Anwandlung von Fantasie — in dem eben erklaͤrten Sinn — bekommen, welche eine Zerstreuung noͤthig macht.

Bey Erlernung der reinen Mathematik sind jedoch diese Schwierigkeiten nicht vorhanden; denn in der Geometrie fallen Anschauungen und Begriffe ineinander; die Anschauungen unterstuͤtzen also noch die Vernunft, und die weilende Einbildungskraft hat gar keine Gelegenheit sie in Naturbilder zu verwandeln; noch hat die Geometrie Begriffe, welche Zweifel erregen. Jn der Arithmetik und gemeinen Algebra haben die Begriffe gar keine Anschauungen; die weilende Einbildungskraft kommt also auch in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0122" n="120"/><lb/>
viele Anziehung fu&#x0364;r uns hat, und die Vernunft                         wird hierdurch ebenfalls in ihren Fortschritten gesto&#x0364;rt. Durch diese                         Hindernisse wird die Seele von ihren angestellten Untersuchungen ganz                         abgebracht; die weilende Einbildungskraft und die Selbstmacht, welche durch                         die vorigen Operationen rege wurden, verbinden sich mit einander und                         erzeugen die <hi rendition="#b">Fantasie;</hi> denn diese ist nichts anders                         als eine Einbildungskraft, welche weilend genug ist, um Bilder vollkommen                         auszumahlen, mit Selbstmacht vereint, um Fortschritte zu machen, und von                         einer Vernunft begleitet, welche keine Zweifel erregt, als solche, die dem                         Entwurfe der Einbildungskraft zu statten kommen. Diese vorerwa&#x0364;hnten                         Schwierigkeiten stehn der Erlernung einer neuen Wissenschaft, und der                         Fortsetzung einer Untersuchung entgegen, auch enthalten sie die Ursache, daß                         Schulknaben, nachdem sie lange studirt, eine Anwandlung von Fantasie &#x2014; in                         dem eben erkla&#x0364;rten Sinn &#x2014; bekommen, welche eine Zerstreuung no&#x0364;thig                         macht.</p>
          <p>Bey Erlernung der reinen Mathematik sind jedoch diese Schwierigkeiten nicht                         vorhanden; denn in der Geometrie fallen Anschauungen und Begriffe                         ineinander; die Anschauungen unterstu&#x0364;tzen also noch die Vernunft, und die                         weilende Einbildungskraft hat gar keine Gelegenheit sie in Naturbilder zu                         verwandeln; noch hat die Geometrie Begriffe, welche Zweifel erregen. Jn der                         Arithmetik und gemeinen Algebra haben die Begriffe gar keine Anschauungen;                         die weilende Einbildungskraft kommt also auch in<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0122] viele Anziehung fuͤr uns hat, und die Vernunft wird hierdurch ebenfalls in ihren Fortschritten gestoͤrt. Durch diese Hindernisse wird die Seele von ihren angestellten Untersuchungen ganz abgebracht; die weilende Einbildungskraft und die Selbstmacht, welche durch die vorigen Operationen rege wurden, verbinden sich mit einander und erzeugen die Fantasie; denn diese ist nichts anders als eine Einbildungskraft, welche weilend genug ist, um Bilder vollkommen auszumahlen, mit Selbstmacht vereint, um Fortschritte zu machen, und von einer Vernunft begleitet, welche keine Zweifel erregt, als solche, die dem Entwurfe der Einbildungskraft zu statten kommen. Diese vorerwaͤhnten Schwierigkeiten stehn der Erlernung einer neuen Wissenschaft, und der Fortsetzung einer Untersuchung entgegen, auch enthalten sie die Ursache, daß Schulknaben, nachdem sie lange studirt, eine Anwandlung von Fantasie — in dem eben erklaͤrten Sinn — bekommen, welche eine Zerstreuung noͤthig macht. Bey Erlernung der reinen Mathematik sind jedoch diese Schwierigkeiten nicht vorhanden; denn in der Geometrie fallen Anschauungen und Begriffe ineinander; die Anschauungen unterstuͤtzen also noch die Vernunft, und die weilende Einbildungskraft hat gar keine Gelegenheit sie in Naturbilder zu verwandeln; noch hat die Geometrie Begriffe, welche Zweifel erregen. Jn der Arithmetik und gemeinen Algebra haben die Begriffe gar keine Anschauungen; die weilende Einbildungskraft kommt also auch in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Christof Wingertszahn, Sheila Dickson, University of Glasgow, Goethe-Museum Düsseldorf/Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung: Erstellung der Transkription nach DTA-Richtlinien (2015-06-09T11:00:00Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig, Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Konvertierung nach DTA-Basisformat (2015-06-09T11:00:00Z)
UB Uni-Bielefeld: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2015-06-09T11:00:00Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Langes s (ſ) wird als rundes s (s) wiedergegeben.
  • Die Umlautschreibung mit ›e‹ über dem Vokal wurden übernommen.
  • Die Majuskel I/J wurde nicht nach Lautwert transkribiert.
  • Verbessert wird nur bei eindeutigen Druckfehlern. Die editorischen Eingriffe sind stets nachgewiesen.
  • Zu Moritz’ Zeit war es üblich, bei mehrzeiligen Zitaten vor jeder Zeile Anführungsstriche zu setzen. Diese wiederholten Anführungsstriche des Originals werden stillschweigend getilgt.
  • Die Druckgestalt der Vorlagen (Absätze, Überschriften, Schriftgrade etc.) wird schematisiert wiedergegeben. Der Zeilenfall wurde nicht übernommen.
  • Worteinfügungen der Herausgeber im edierten Text sowie Ergänzungen einzelner Buchstaben sind dokumentiert.
  • Die Originalseite wird als einzelne Seite in der Internetausgabe wiedergegeben. Von diesem Darstellungsprinzip wird bei langen, sich über mehr als eine Seite erstreckenden Fußnoten abgewichen. Die vollständige Fußnote erscheint in diesem Fall zusammenhängend an der ersten betreffenden Seite.
  • Die textkritischen Nachweise erfolgen in XML-Form nach dem DTABf-Schema: <choice><corr>[Verbesserung]</corr><sic>[Originaltext]</sic></choice> vorgenommen.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/122
Zitationshilfe: Moritz, Karl Philipp (Hrsg.): Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Bd. 10, St. 1. Berlin, 1793, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/moritz_erfahrungsseelenkunde01001_1793/122>, abgerufen am 28.04.2024.