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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL II.
mischen Staat vereinigten Nationen zu verschwinden; die seg-
nenden Götter alle schienen zum Olymp emporgestiegen zu sein
und die jammervolle Erde den amtlich berufenen oder freiwilli-
gen Plünderern und Peinigern überlassen zu haben. Dieser Verfall
des Staats ward nicht etwa bloss von dem, der politische Rechte
und Bürgersinn hatte, als ein öffentliches Unglück empfunden,
sondern die Proletariatsinsurrection und die an die Zeiten der nea-
politanischen Ferdinande erinnernde Räuber- und Piratenwirth-
schaft trugen das Gefühl davon in das entlegenste Thal, in die
niedrigste Hütte Italiens, liessen es jeden, der Handel und Ver-
kehr trieb, der nur einen Scheffel Weizen kaufte, als persönlichen
Nothstand empfinden. -- Wenn nach den Urhebern dieses heil-
losen und beispiellosen Jammers gefragt ward, so war es nicht
schwer mit gutem Recht gar Viele desshalb anzuklagen. Die Scla-
venwirthe, deren Herz im Geldbeutel sass, die unbotmässigen Sol-
daten, die bald feigen, bald unfähigen, bald tollkühnen Generale,
die meist am falschen Ende hetzenden Demagogen des Marktes
trugen ihren Theil der Schuld, oder vielmehr, wer trug an der-
selben nicht mit? Die grosse Majorität der Bürgerschaft taugte
nichts und jeder morsche Baustein half mit zu dem Ruin des
ganzen Gebäudes; es büsste die ganze Nation, was die ganze Na-
tion verschuldete. Es war ungerecht, wenn man die Regierung
als den letzten greifbaren Ausdruck des Staats für alle heilbaren
und unheilbaren Krankheiten desselben verantwortlich machte;
aber es war doch so viel wahr, dass die Regierung in furchtbar
schwerer Weise mittrug an dem allgemeinen Verschulden. In-
stinctmässig ward es empfunden, dass die Ursache des Nothstan-
des nicht in dem Verhalten Einzelner liege. In dem kleinasiati-
schen Kriege namentlich hatte kein einzelner der regierenden
Herren sich in hervorragender Weise verfehlt, Lucullus sogar
militärisch wenigstens tadellos, ja glorreich sich geführt; nur um
so deutlicher ward es desshalb erkannt, dass die Schuld des Miss-
lingens in dem System und in der Regierung als solcher, hier
zunächst in dem schlaffen Preisgeben Kappadokiens und Syriens
durch den Senat lag. Ebenso hatte in der Seepolizei der Senat
den einmal gefassten richtigen Gedanken einer allgemeinen Pira-
tenjagd erst in der Ausführung verdorben und dann ihn gänzlich
fallen lassen, um zu dem thörichten System zurückzukehren, das
gegen die Rosse des Meeres Legionen sandte. Nach diesem Sy-
stem wurden die Expeditionen des Servilius und des Marcius
nach Kilikien, des Metellus nach Kreta unternommen; nach die-
sem liess Triarius die Insel Delos zum Schutz vor den Piraten

FÜNFTES BUCH. KAPITEL II.
mischen Staat vereinigten Nationen zu verschwinden; die seg-
nenden Götter alle schienen zum Olymp emporgestiegen zu sein
und die jammervolle Erde den amtlich berufenen oder freiwilli-
gen Plünderern und Peinigern überlassen zu haben. Dieser Verfall
des Staats ward nicht etwa bloſs von dem, der politische Rechte
und Bürgersinn hatte, als ein öffentliches Unglück empfunden,
sondern die Proletariatsinsurrection und die an die Zeiten der nea-
politanischen Ferdinande erinnernde Räuber- und Piratenwirth-
schaft trugen das Gefühl davon in das entlegenste Thal, in die
niedrigste Hütte Italiens, lieſsen es jeden, der Handel und Ver-
kehr trieb, der nur einen Scheffel Weizen kaufte, als persönlichen
Nothstand empfinden. — Wenn nach den Urhebern dieses heil-
losen und beispiellosen Jammers gefragt ward, so war es nicht
schwer mit gutem Recht gar Viele deſshalb anzuklagen. Die Scla-
venwirthe, deren Herz im Geldbeutel saſs, die unbotmäſsigen Sol-
daten, die bald feigen, bald unfähigen, bald tollkühnen Generale,
die meist am falschen Ende hetzenden Demagogen des Marktes
trugen ihren Theil der Schuld, oder vielmehr, wer trug an der-
selben nicht mit? Die groſse Majorität der Bürgerschaft taugte
nichts und jeder morsche Baustein half mit zu dem Ruin des
ganzen Gebäudes; es büſste die ganze Nation, was die ganze Na-
tion verschuldete. Es war ungerecht, wenn man die Regierung
als den letzten greifbaren Ausdruck des Staats für alle heilbaren
und unheilbaren Krankheiten desselben verantwortlich machte;
aber es war doch so viel wahr, daſs die Regierung in furchtbar
schwerer Weise mittrug an dem allgemeinen Verschulden. In-
stinctmäſsig ward es empfunden, daſs die Ursache des Nothstan-
des nicht in dem Verhalten Einzelner liege. In dem kleinasiati-
schen Kriege namentlich hatte kein einzelner der regierenden
Herren sich in hervorragender Weise verfehlt, Lucullus sogar
militärisch wenigstens tadellos, ja glorreich sich geführt; nur um
so deutlicher ward es deſshalb erkannt, daſs die Schuld des Miſs-
lingens in dem System und in der Regierung als solcher, hier
zunächst in dem schlaffen Preisgeben Kappadokiens und Syriens
durch den Senat lag. Ebenso hatte in der Seepolizei der Senat
den einmal gefaſsten richtigen Gedanken einer allgemeinen Pira-
tenjagd erst in der Ausführung verdorben und dann ihn gänzlich
fallen lassen, um zu dem thörichten System zurückzukehren, das
gegen die Rosse des Meeres Legionen sandte. Nach diesem Sy-
stem wurden die Expeditionen des Servilius und des Marcius
nach Kilikien, des Metellus nach Kreta unternommen; nach die-
sem lieſs Triarius die Insel Delos zum Schutz vor den Piraten

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[82/0092] FÜNFTES BUCH. KAPITEL II. mischen Staat vereinigten Nationen zu verschwinden; die seg- nenden Götter alle schienen zum Olymp emporgestiegen zu sein und die jammervolle Erde den amtlich berufenen oder freiwilli- gen Plünderern und Peinigern überlassen zu haben. Dieser Verfall des Staats ward nicht etwa bloſs von dem, der politische Rechte und Bürgersinn hatte, als ein öffentliches Unglück empfunden, sondern die Proletariatsinsurrection und die an die Zeiten der nea- politanischen Ferdinande erinnernde Räuber- und Piratenwirth- schaft trugen das Gefühl davon in das entlegenste Thal, in die niedrigste Hütte Italiens, lieſsen es jeden, der Handel und Ver- kehr trieb, der nur einen Scheffel Weizen kaufte, als persönlichen Nothstand empfinden. — Wenn nach den Urhebern dieses heil- losen und beispiellosen Jammers gefragt ward, so war es nicht schwer mit gutem Recht gar Viele deſshalb anzuklagen. Die Scla- venwirthe, deren Herz im Geldbeutel saſs, die unbotmäſsigen Sol- daten, die bald feigen, bald unfähigen, bald tollkühnen Generale, die meist am falschen Ende hetzenden Demagogen des Marktes trugen ihren Theil der Schuld, oder vielmehr, wer trug an der- selben nicht mit? Die groſse Majorität der Bürgerschaft taugte nichts und jeder morsche Baustein half mit zu dem Ruin des ganzen Gebäudes; es büſste die ganze Nation, was die ganze Na- tion verschuldete. Es war ungerecht, wenn man die Regierung als den letzten greifbaren Ausdruck des Staats für alle heilbaren und unheilbaren Krankheiten desselben verantwortlich machte; aber es war doch so viel wahr, daſs die Regierung in furchtbar schwerer Weise mittrug an dem allgemeinen Verschulden. In- stinctmäſsig ward es empfunden, daſs die Ursache des Nothstan- des nicht in dem Verhalten Einzelner liege. In dem kleinasiati- schen Kriege namentlich hatte kein einzelner der regierenden Herren sich in hervorragender Weise verfehlt, Lucullus sogar militärisch wenigstens tadellos, ja glorreich sich geführt; nur um so deutlicher ward es deſshalb erkannt, daſs die Schuld des Miſs- lingens in dem System und in der Regierung als solcher, hier zunächst in dem schlaffen Preisgeben Kappadokiens und Syriens durch den Senat lag. Ebenso hatte in der Seepolizei der Senat den einmal gefaſsten richtigen Gedanken einer allgemeinen Pira- tenjagd erst in der Ausführung verdorben und dann ihn gänzlich fallen lassen, um zu dem thörichten System zurückzukehren, das gegen die Rosse des Meeres Legionen sandte. Nach diesem Sy- stem wurden die Expeditionen des Servilius und des Marcius nach Kilikien, des Metellus nach Kreta unternommen; nach die- sem lieſs Triarius die Insel Delos zum Schutz vor den Piraten

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/92>, abgerufen am 24.11.2024.