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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.

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FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Ruhepunkte für die wissenschaftliche Erörterung. Der Stil ist
ebenso durchgearbeitet und gefeilt wie in den bestgeschriebenen
Reden und insofern erfreulicher als diese, als der Verfasser hier
nicht leicht einen vergeblichen Anlauf zum Pathos nimmt. Wenn
diese philosophisch gefärbten rhetorischen und politischen Schrif-
ten Ciceros nicht ohne Verdienst sind, so fiel dagegen der Com-
pilator vollständig durch, als er in der unfreiwilligen Musse seiner
letzten Lebensjahre (709. 710) sich an die eigentliche Philoso-
phie machte und mit ebenso grosser Verdriesslichkeit wie Eil-
fertigkeit in ein paar Monaten eine philosophische Bibliothek
zusammenschrieb. Das Recept war sehr einfach. In roher Nach-
ahmung der populären aristotelischen Schriften, in welchen die
dialogische Form hauptsächlich zur Entwickelung und Kritisirung
der verschiedenen älteren Systeme benutzt war, nähte Cicero
über irgend ein philosophisches Problem die einschlagenden
epikureischen, stoischen und synkretistischen Schriften, wie sie
ihm in die Hand kamen oder gegeben wurden, zu einem soge-
nannten Dialog an einander, ohne von sich mehr dazu zu thun
als theils irgend eine aus der reichen Sammlung von Vorreden
für künftige Werke, die er liegen hatte, dem neuen Buche
vorgeschobene Einleitung, theils diejenige Verhunzung, ohne
welche ein weder zum philosophischen Denken noch auch nur
zum philosophischen Wissen gelangter schnell und dreist arbei-
tender Litterat dialektische Gedankenreihen nicht reproducirt.
Auf diesem Wege konnten denn freilich sehr schnell eine Menge
dicker Bücher entstehen -- ,es sind Abschriften', schrieb der
Verfasser selbst einem über seine Fruchtbarkeit verwunderten
Freunde; ,sie machen mir wenig Mühe, denn ich gebe nur die
Worte dazu und die habe ich in Ueberfluss'. Aber wer in solchen
Schreibereien klassische Productionen sucht, dem kann man nur
rathen sich in litterarischen Dingen eines schönen Stillschweigens
zu befleissigen.

Unter den Wissenschaften herrschte reges Leben nur in
einer einzigen: es war dies die lateinische Philologie. Das von Stilo
angelegte Gebäude sprachlicher und sachlicher lateinischer For-
schung wurde vor allem von seinem Schüler Varro in der gross-
artigsten Weise ausgebaut. Es erschienen umfassende Durch-
arbeitungen des gesammten Sprachschatzes, namentlich Figulus
weitschichtige grammatische Commentarien und Varros grosses
Werk ,von der lateinischen Sprache'; grammatische und sprach-
geschichtliche Monographien, wie Varros Schriften vom lateini-
schen Sprachgebrauch, über die Synonymen, über das Alter der

FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII.
Ruhepunkte für die wissenschaftliche Erörterung. Der Stil ist
ebenso durchgearbeitet und gefeilt wie in den bestgeschriebenen
Reden und insofern erfreulicher als diese, als der Verfasser hier
nicht leicht einen vergeblichen Anlauf zum Pathos nimmt. Wenn
diese philosophisch gefärbten rhetorischen und politischen Schrif-
ten Ciceros nicht ohne Verdienst sind, so fiel dagegen der Com-
pilator vollständig durch, als er in der unfreiwilligen Muſse seiner
letzten Lebensjahre (709. 710) sich an die eigentliche Philoso-
phie machte und mit ebenso groſser Verdrieſslichkeit wie Eil-
fertigkeit in ein paar Monaten eine philosophische Bibliothek
zusammenschrieb. Das Recept war sehr einfach. In roher Nach-
ahmung der populären aristotelischen Schriften, in welchen die
dialogische Form hauptsächlich zur Entwickelung und Kritisirung
der verschiedenen älteren Systeme benutzt war, nähte Cicero
über irgend ein philosophisches Problem die einschlagenden
epikureischen, stoischen und synkretistischen Schriften, wie sie
ihm in die Hand kamen oder gegeben wurden, zu einem soge-
nannten Dialog an einander, ohne von sich mehr dazu zu thun
als theils irgend eine aus der reichen Sammlung von Vorreden
für künftige Werke, die er liegen hatte, dem neuen Buche
vorgeschobene Einleitung, theils diejenige Verhunzung, ohne
welche ein weder zum philosophischen Denken noch auch nur
zum philosophischen Wissen gelangter schnell und dreist arbei-
tender Litterat dialektische Gedankenreihen nicht reproducirt.
Auf diesem Wege konnten denn freilich sehr schnell eine Menge
dicker Bücher entstehen — ‚es sind Abschriften‘, schrieb der
Verfasser selbst einem über seine Fruchtbarkeit verwunderten
Freunde; ‚sie machen mir wenig Mühe, denn ich gebe nur die
Worte dazu und die habe ich in Ueberfluſs‘. Aber wer in solchen
Schreibereien klassische Productionen sucht, dem kann man nur
rathen sich in litterarischen Dingen eines schönen Stillschweigens
zu befleiſsigen.

Unter den Wissenschaften herrschte reges Leben nur in
einer einzigen: es war dies die lateinische Philologie. Das von Stilo
angelegte Gebäude sprachlicher und sachlicher lateinischer For-
schung wurde vor allem von seinem Schüler Varro in der groſs-
artigsten Weise ausgebaut. Es erschienen umfassende Durch-
arbeitungen des gesammten Sprachschatzes, namentlich Figulus
weitschichtige grammatische Commentarien und Varros groſses
Werk ‚von der lateinischen Sprache‘; grammatische und sprach-
geschichtliche Monographien, wie Varros Schriften vom lateini-
schen Sprachgebrauch, über die Synonymen, über das Alter der

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[576/0586] FÜNFTES BUCH. KAPITEL XII. Ruhepunkte für die wissenschaftliche Erörterung. Der Stil ist ebenso durchgearbeitet und gefeilt wie in den bestgeschriebenen Reden und insofern erfreulicher als diese, als der Verfasser hier nicht leicht einen vergeblichen Anlauf zum Pathos nimmt. Wenn diese philosophisch gefärbten rhetorischen und politischen Schrif- ten Ciceros nicht ohne Verdienst sind, so fiel dagegen der Com- pilator vollständig durch, als er in der unfreiwilligen Muſse seiner letzten Lebensjahre (709. 710) sich an die eigentliche Philoso- phie machte und mit ebenso groſser Verdrieſslichkeit wie Eil- fertigkeit in ein paar Monaten eine philosophische Bibliothek zusammenschrieb. Das Recept war sehr einfach. In roher Nach- ahmung der populären aristotelischen Schriften, in welchen die dialogische Form hauptsächlich zur Entwickelung und Kritisirung der verschiedenen älteren Systeme benutzt war, nähte Cicero über irgend ein philosophisches Problem die einschlagenden epikureischen, stoischen und synkretistischen Schriften, wie sie ihm in die Hand kamen oder gegeben wurden, zu einem soge- nannten Dialog an einander, ohne von sich mehr dazu zu thun als theils irgend eine aus der reichen Sammlung von Vorreden für künftige Werke, die er liegen hatte, dem neuen Buche vorgeschobene Einleitung, theils diejenige Verhunzung, ohne welche ein weder zum philosophischen Denken noch auch nur zum philosophischen Wissen gelangter schnell und dreist arbei- tender Litterat dialektische Gedankenreihen nicht reproducirt. Auf diesem Wege konnten denn freilich sehr schnell eine Menge dicker Bücher entstehen — ‚es sind Abschriften‘, schrieb der Verfasser selbst einem über seine Fruchtbarkeit verwunderten Freunde; ‚sie machen mir wenig Mühe, denn ich gebe nur die Worte dazu und die habe ich in Ueberfluſs‘. Aber wer in solchen Schreibereien klassische Productionen sucht, dem kann man nur rathen sich in litterarischen Dingen eines schönen Stillschweigens zu befleiſsigen. Unter den Wissenschaften herrschte reges Leben nur in einer einzigen: es war dies die lateinische Philologie. Das von Stilo angelegte Gebäude sprachlicher und sachlicher lateinischer For- schung wurde vor allem von seinem Schüler Varro in der groſs- artigsten Weise ausgebaut. Es erschienen umfassende Durch- arbeitungen des gesammten Sprachschatzes, namentlich Figulus weitschichtige grammatische Commentarien und Varros groſses Werk ‚von der lateinischen Sprache‘; grammatische und sprach- geschichtliche Monographien, wie Varros Schriften vom lateini- schen Sprachgebrauch, über die Synonymen, über das Alter der

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische03_1856/586>, abgerufen am 03.05.2024.