Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von Thapsus. Leipzig, 1856.LITTERATUR. telbaren Lebendigkeit sich entfaltet. Varro war im besten undvollsten Sinne des Wortes ein Localgelehrter, der seine Nation in ihrer ehemaligen Eigenthümlichkeit und Abgeschlossenheit wie in ihrer modernen Verschliffenheit und Zerstreuung aus vieljäh- riger eigener Anschauung kannte und seine unmittelbare Kennt- niss der Landessitte und Landessprache durch die umfassendste Durchforschung der geschichtlichen und litterarischen Archive ergänzt und vertieft hatte. Was insofern an verstandesmässiger Auffassung und Gelehrsamkeit in unserem Sinn ihm abging, das gewann die Anschauung und die in ihm lebendige Poesie. Er haschte weder nach antiquarischen Notizen noch nach seltenen veralteten oder poetischen Wörtern*; aber er selbst war ein alter und altfränkischer Mann und beinah ein Bauer, die Klassiker sei- ner Nation ihm liebe langgewohnte Genossen; wie konnte es feh- len, dass von der Sitte der Väter, die er über alles liebte und vor allen kannte, gar vielerlei in seinen Schriften erzählt ward, und dass seine Rede überfloss von sprichwörtlichen griechischen und latei- nischen Wendungen, von guten alten in der sabinischen Um- gangssprache bewahrten Wörtern, von ennianischen, lucilischen, vor allem plautinischen Reminiscenzen? Den Prosastil dieser ästhetischen Schriften aus Varros früherer Zeit darf man sich nicht vorstellen nach dem der fachwissenschaftlichen Werke sei- nes hohen Alters, der die Satzglieder am Faden der Relativa auf- reiht wie die Drosseln an der Schnur; dass aber Varro grundsätz- lich die strenge Stilisirung und die attische Periodisirung ver- warf, wurde früher schon bemerkt (S. 537), und seine ästheti- schen Aufsätze waren zwar ohne den gemeinen Schwulst und die falschen Flitter des Vulgarismus, aber in mehr lebendig gefügten als wohl gegliederten Sätzen unklassisch und selbst schluderig ge- schrieben. Die eingelegten Poesien bewiesen dagegen nicht bloss, dass ihr Urheber die mannigfaltigsten Masse meisterlich wie nur einer der Modepoeten zu bilden verstand, sondern auch dass er ein Recht hatte denen sich zuzuzählen, welchen ein Gott es ver- gönnt hat ,die Sorgen aus dem Herzen zu bannen durch das Lied und die heilige Dichtkunst'. ** Schule machte die varronische * Er selbst sagt einmal treffend, dass er veraltete Wörter nicht beson- ders liebe, aber öfter sie brauche, poetische Wörter sehr liebe, aber sie nicht brauche. ** Die folgende Schilderung ist dem ,Marcussclaven' entnommen: Auf einmal, um die Zeit der Mitternacht etwa, Als uns mit Feuerflammen weit und breit gestickt Der luftige Raum den Himmelssternenreigen wies, Röm. Gesch. III. 36
LITTERATUR. telbaren Lebendigkeit sich entfaltet. Varro war im besten undvollsten Sinne des Wortes ein Localgelehrter, der seine Nation in ihrer ehemaligen Eigenthümlichkeit und Abgeschlossenheit wie in ihrer modernen Verschliffenheit und Zerstreuung aus vieljäh- riger eigener Anschauung kannte und seine unmittelbare Kennt- niſs der Landessitte und Landessprache durch die umfassendste Durchforschung der geschichtlichen und litterarischen Archive ergänzt und vertieft hatte. Was insofern an verstandesmäſsiger Auffassung und Gelehrsamkeit in unserem Sinn ihm abging, das gewann die Anschauung und die in ihm lebendige Poesie. Er haschte weder nach antiquarischen Notizen noch nach seltenen veralteten oder poetischen Wörtern*; aber er selbst war ein alter und altfränkischer Mann und beinah ein Bauer, die Klassiker sei- ner Nation ihm liebe langgewohnte Genossen; wie konnte es feh- len, daſs von der Sitte der Väter, die er über alles liebte und vor allen kannte, gar vielerlei in seinen Schriften erzählt ward, und daſs seine Rede überfloſs von sprichwörtlichen griechischen und latei- nischen Wendungen, von guten alten in der sabinischen Um- gangssprache bewahrten Wörtern, von ennianischen, lucilischen, vor allem plautinischen Reminiscenzen? Den Prosastil dieser ästhetischen Schriften aus Varros früherer Zeit darf man sich nicht vorstellen nach dem der fachwissenschaftlichen Werke sei- nes hohen Alters, der die Satzglieder am Faden der Relativa auf- reiht wie die Drosseln an der Schnur; daſs aber Varro grundsätz- lich die strenge Stilisirung und die attische Periodisirung ver- warf, wurde früher schon bemerkt (S. 537), und seine ästheti- schen Aufsätze waren zwar ohne den gemeinen Schwulst und die falschen Flitter des Vulgarismus, aber in mehr lebendig gefügten als wohl gegliederten Sätzen unklassisch und selbst schluderig ge- schrieben. Die eingelegten Poesien bewiesen dagegen nicht bloſs, daſs ihr Urheber die mannigfaltigsten Maſse meisterlich wie nur einer der Modepoeten zu bilden verstand, sondern auch daſs er ein Recht hatte denen sich zuzuzählen, welchen ein Gott es ver- gönnt hat ‚die Sorgen aus dem Herzen zu bannen durch das Lied und die heilige Dichtkunst‘. ** Schule machte die varronische * Er selbst sagt einmal treffend, daſs er veraltete Wörter nicht beson- ders liebe, aber öfter sie brauche, poetische Wörter sehr liebe, aber sie nicht brauche. ** Die folgende Schilderung ist dem ‚Marcussclaven‘ entnommen: Auf einmal, um die Zeit der Mitternacht etwa, Als uns mit Feuerflammen weit und breit gestickt Der luftige Raum den Himmelssternenreigen wies, Röm. Gesch. III. 36
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LITTERATUR.
telbaren Lebendigkeit sich entfaltet. Varro war im besten und
vollsten Sinne des Wortes ein Localgelehrter, der seine Nation
in ihrer ehemaligen Eigenthümlichkeit und Abgeschlossenheit wie
in ihrer modernen Verschliffenheit und Zerstreuung aus vieljäh-
riger eigener Anschauung kannte und seine unmittelbare Kennt-
niſs der Landessitte und Landessprache durch die umfassendste
Durchforschung der geschichtlichen und litterarischen Archive
ergänzt und vertieft hatte. Was insofern an verstandesmäſsiger
Auffassung und Gelehrsamkeit in unserem Sinn ihm abging, das
gewann die Anschauung und die in ihm lebendige Poesie. Er
haschte weder nach antiquarischen Notizen noch nach seltenen
veralteten oder poetischen Wörtern *; aber er selbst war ein alter
und altfränkischer Mann und beinah ein Bauer, die Klassiker sei-
ner Nation ihm liebe langgewohnte Genossen; wie konnte es feh-
len, daſs von der Sitte der Väter, die er über alles liebte und vor
allen kannte, gar vielerlei in seinen Schriften erzählt ward, und daſs
seine Rede überfloſs von sprichwörtlichen griechischen und latei-
nischen Wendungen, von guten alten in der sabinischen Um-
gangssprache bewahrten Wörtern, von ennianischen, lucilischen,
vor allem plautinischen Reminiscenzen? Den Prosastil dieser
ästhetischen Schriften aus Varros früherer Zeit darf man sich
nicht vorstellen nach dem der fachwissenschaftlichen Werke sei-
nes hohen Alters, der die Satzglieder am Faden der Relativa auf-
reiht wie die Drosseln an der Schnur; daſs aber Varro grundsätz-
lich die strenge Stilisirung und die attische Periodisirung ver-
warf, wurde früher schon bemerkt (S. 537), und seine ästheti-
schen Aufsätze waren zwar ohne den gemeinen Schwulst und die
falschen Flitter des Vulgarismus, aber in mehr lebendig gefügten
als wohl gegliederten Sätzen unklassisch und selbst schluderig ge-
schrieben. Die eingelegten Poesien bewiesen dagegen nicht bloſs,
daſs ihr Urheber die mannigfaltigsten Maſse meisterlich wie nur
einer der Modepoeten zu bilden verstand, sondern auch daſs er
ein Recht hatte denen sich zuzuzählen, welchen ein Gott es ver-
gönnt hat ‚die Sorgen aus dem Herzen zu bannen durch das
Lied und die heilige Dichtkunst‘. ** Schule machte die varronische
* Er selbst sagt einmal treffend, daſs er veraltete Wörter nicht beson-
ders liebe, aber öfter sie brauche, poetische Wörter sehr liebe, aber sie
nicht brauche.
** Die folgende Schilderung ist dem ‚Marcussclaven‘ entnommen:
Auf einmal, um die Zeit der Mitternacht etwa,
Als uns mit Feuerflammen weit und breit gestickt
Der luftige Raum den Himmelssternenreigen wies,
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