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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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verfügt; jetzt liess man die Bürgerschaft sich an den Gedanken
gewöhnen, dass sie von allen directen Abgaben frei sei; und wozu
der Senat sich verstand, um nur nicht die Bürger durch die Con-
scription zum überseeischen Dienst zu verstimmen, zeigt unter
vielen andern Thatsachen das Stillschweigen zu der Ermordung
des Gnaeus Octavius in Syrien und die Weigerung dem Scipio für
den numantinischen Krieg die Aushebung zu gestatten. Das Co-
terienregiment in unleidlicher Vermischung mit einer formal ab-
soluten Demokratie trat durchaus an die Stelle der Herrschaft
der ,besten Männer'; die Nobilität war in vollem Zuge es zu ver-
gessen, dass sie den Staat nur vertrat und nicht ausmachte und
damit sich selber den sittlichen und den politischen Boden unter
den Füssen wegzuziehen.

Erwägen wir die Folgen in der äusseren wie in der inneren
Staatsverwaltung. Die Aufgabe, welche die gewonnene Weltherr-
schaft an die herrschende Macht stellte, ward früher bezeichnet;
sie ward nicht völlig verkannt, aber keineswegs gelöst. Das Sy-
stem der älteren Generation den Staat auf Italien zu beschränken
und ausserhalb Italien nur durch Clientel zu regieren, ward wohl
als unhaltbar erkannt und aufgegeben. Es kam wohl ein anderer
Geist in das Regiment, welches nicht mehr das war des schützen-
den Vormundes, sondern das des strengen Herrn -- bezeich-
nend dafür ist es zum Beispiel, dass Publius Crassus Consul
623, kein schlechter Mann und ein strengrechtlicher Beamter,
als ihm die freie Stadt Mylasa in Karien zur Erbauung eines
Sturmbocks in bester Absicht einen andern Balken als den ver-
langten gesandt hatte, den Vorstand der Stadt desswegen ent-
kleiden und auspeitschen liess. Aber die neue Aufgabe, an die
Stelle des Clientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wah-
rende unmittelbare Herrschaft Roms zu setzen, ward nicht
durchgeführt. Wie eben Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvortheil
und Zufall einwirkten, wurden einzelne Landschaften eingezogen,
wogegen der bei weitem grösste Theil der Clientelstaaten entwe-
der in der unerträglichen Halbheit seiner bisherigen Stellung
verblieb oder gar, wie namentlich der fernere Osten, dem Ein-
flusse Roms gänzlich sich entzog. Man begnügte sich von heute
auf morgen zu regieren und in der Regierung nichts zu sehen
als die Erledigung der laufenden Geschäfte. Statt bei der stei-
genden Ausdehnung und Wichtigkeit der Provinzen die Zügel
des Provinzialregiments schärfer anzuziehen, liess die Central-
gewalt dieselben sich vollständig entschlüpfen und verzichtete auf
jede Oberleitung und Uebersicht, so dass dem jedesmaligen Vogt

VIERTES BUCH. KAPITEL II.
verfügt; jetzt lieſs man die Bürgerschaft sich an den Gedanken
gewöhnen, daſs sie von allen directen Abgaben frei sei; und wozu
der Senat sich verstand, um nur nicht die Bürger durch die Con-
scription zum überseeischen Dienst zu verstimmen, zeigt unter
vielen andern Thatsachen das Stillschweigen zu der Ermordung
des Gnaeus Octavius in Syrien und die Weigerung dem Scipio für
den numantinischen Krieg die Aushebung zu gestatten. Das Co-
terienregiment in unleidlicher Vermischung mit einer formal ab-
soluten Demokratie trat durchaus an die Stelle der Herrschaft
der ‚besten Männer‘; die Nobilität war in vollem Zuge es zu ver-
gessen, daſs sie den Staat nur vertrat und nicht ausmachte und
damit sich selber den sittlichen und den politischen Boden unter
den Füſsen wegzuziehen.

Erwägen wir die Folgen in der äuſseren wie in der inneren
Staatsverwaltung. Die Aufgabe, welche die gewonnene Weltherr-
schaft an die herrschende Macht stellte, ward früher bezeichnet;
sie ward nicht völlig verkannt, aber keineswegs gelöst. Das Sy-
stem der älteren Generation den Staat auf Italien zu beschränken
und auſserhalb Italien nur durch Clientel zu regieren, ward wohl
als unhaltbar erkannt und aufgegeben. Es kam wohl ein anderer
Geist in das Regiment, welches nicht mehr das war des schützen-
den Vormundes, sondern das des strengen Herrn — bezeich-
nend dafür ist es zum Beispiel, daſs Publius Crassus Consul
623, kein schlechter Mann und ein strengrechtlicher Beamter,
als ihm die freie Stadt Mylasa in Karien zur Erbauung eines
Sturmbocks in bester Absicht einen andern Balken als den ver-
langten gesandt hatte, den Vorstand der Stadt deſswegen ent-
kleiden und auspeitschen lieſs. Aber die neue Aufgabe, an die
Stelle des Clientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wah-
rende unmittelbare Herrschaft Roms zu setzen, ward nicht
durchgeführt. Wie eben Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvortheil
und Zufall einwirkten, wurden einzelne Landschaften eingezogen,
wogegen der bei weitem gröſste Theil der Clientelstaaten entwe-
der in der unerträglichen Halbheit seiner bisherigen Stellung
verblieb oder gar, wie namentlich der fernere Osten, dem Ein-
flusse Roms gänzlich sich entzog. Man begnügte sich von heute
auf morgen zu regieren und in der Regierung nichts zu sehen
als die Erledigung der laufenden Geschäfte. Statt bei der stei-
genden Ausdehnung und Wichtigkeit der Provinzen die Zügel
des Provinzialregiments schärfer anzuziehen, lieſs die Central-
gewalt dieselben sich vollständig entschlüpfen und verzichtete auf
jede Oberleitung und Uebersicht, so daſs dem jedesmaligen Vogt

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[66/0076] VIERTES BUCH. KAPITEL II. verfügt; jetzt lieſs man die Bürgerschaft sich an den Gedanken gewöhnen, daſs sie von allen directen Abgaben frei sei; und wozu der Senat sich verstand, um nur nicht die Bürger durch die Con- scription zum überseeischen Dienst zu verstimmen, zeigt unter vielen andern Thatsachen das Stillschweigen zu der Ermordung des Gnaeus Octavius in Syrien und die Weigerung dem Scipio für den numantinischen Krieg die Aushebung zu gestatten. Das Co- terienregiment in unleidlicher Vermischung mit einer formal ab- soluten Demokratie trat durchaus an die Stelle der Herrschaft der ‚besten Männer‘; die Nobilität war in vollem Zuge es zu ver- gessen, daſs sie den Staat nur vertrat und nicht ausmachte und damit sich selber den sittlichen und den politischen Boden unter den Füſsen wegzuziehen. Erwägen wir die Folgen in der äuſseren wie in der inneren Staatsverwaltung. Die Aufgabe, welche die gewonnene Weltherr- schaft an die herrschende Macht stellte, ward früher bezeichnet; sie ward nicht völlig verkannt, aber keineswegs gelöst. Das Sy- stem der älteren Generation den Staat auf Italien zu beschränken und auſserhalb Italien nur durch Clientel zu regieren, ward wohl als unhaltbar erkannt und aufgegeben. Es kam wohl ein anderer Geist in das Regiment, welches nicht mehr das war des schützen- den Vormundes, sondern das des strengen Herrn — bezeich- nend dafür ist es zum Beispiel, daſs Publius Crassus Consul 623, kein schlechter Mann und ein strengrechtlicher Beamter, als ihm die freie Stadt Mylasa in Karien zur Erbauung eines Sturmbocks in bester Absicht einen andern Balken als den ver- langten gesandt hatte, den Vorstand der Stadt deſswegen ent- kleiden und auspeitschen lieſs. Aber die neue Aufgabe, an die Stelle des Clientelregiments eine die Gemeindefreiheiten wah- rende unmittelbare Herrschaft Roms zu setzen, ward nicht durchgeführt. Wie eben Gelegenheit, Eigensinn, Nebenvortheil und Zufall einwirkten, wurden einzelne Landschaften eingezogen, wogegen der bei weitem gröſste Theil der Clientelstaaten entwe- der in der unerträglichen Halbheit seiner bisherigen Stellung verblieb oder gar, wie namentlich der fernere Osten, dem Ein- flusse Roms gänzlich sich entzog. Man begnügte sich von heute auf morgen zu regieren und in der Regierung nichts zu sehen als die Erledigung der laufenden Geschäfte. Statt bei der stei- genden Ausdehnung und Wichtigkeit der Provinzen die Zügel des Provinzialregiments schärfer anzuziehen, lieſs die Central- gewalt dieselben sich vollständig entschlüpfen und verzichtete auf jede Oberleitung und Uebersicht, so daſs dem jedesmaligen Vogt

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/76>, abgerufen am 06.05.2024.