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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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LITTERATUR UND KUNST.
nennen, dem wir so viele ernstliche Belehrung verdanken wie
ihm. Seine Bücher sind wie die Sonne auf diesem Gebiet; wo sie
anfangen, da heben sich die Nebelschleier, die noch die samniti-
schen und den pyrrhischen Krieg bedecken, und wo sie endigen,
beginnt eine neue wo möglich noch lästigere Dämmerung.

In einem seltsamen Gegensatz zu dieser grossartigen Auf-
fassung und Behandlung der römischen Geschichte durch einen
Ausländer steht die gleichzeitige einheimische Geschichtslitteratur.
Die Chroniken wurden immer zahlreicher und immer weitläuftiger
-- genannt werden zum Beispiel die des Lucius Cassius Hemina
(um 608), des Lucius Calpurnius Piso (Consul 621), des Gaius
Fannius (Praetor 617), des Gaius Sempronius Tuditanus (Con-
sul 625) --, aber auch immer elender und die Unwissenheit ihrer
vornehmen Verfasser um so unerträglicher, je mehr im Allgemei-
nen die Bildung stieg. Wenn wir zum Beispiel bei Piso lesen,
dass Romulus sich gehütet habe dann zu poculiren, wenn er
den andern Tag eine Sitzung gehabt; dass die Tarpeia die Burg
den Sabinern aus Vaterlandsliebe verrathen habe um die Feinde
ihrer Schilde zu berauben: so kann das Urtheil verständiger Zeit-
genossen über diese ganze Schreiberei nicht befremden, ,dass das
nicht heisse Geschichte schreiben, sondern den Kindern Ge-
schichten erzählen'. Weit vorzüglicher waren einzelne Werke über
die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart,
namentlich die Geschichte des hannibalischen Krieges von Lucius
Caelius Antipater (um 633) und des wenig jüngeren Publius Sem-
pronius Asellio Geschichte seiner Zeit. Hier fand sich wenigstens
schätzbares Material und ernster Wahrheitssinn, bei Antipater
auch eine kräftige, wenn gleich etwas hausbackene Darstellung;
doch reichte, nach allen Zeugnissen und Bruchstücken zu
schliessen, keines dieser Bücher weder in markiger Form noch
in Originalität an die ,Ursprünge' Catos, der leider auf dem hi-
storischen Gebiet so wenig wie auf dem politischen Schule ge-
macht hat. -- Stark vertreten sind die untergeordneten mehr
individuellen und ephemeren Gattungen der historischen Littera-
tur, die Memoiren, die Briefe, die Reden. Schon zeichneten die
ersten Staatsmänner Roms selbst ihre Erlebnisse auf: so Marcus
Scaurus Consul 639, Publius Rufus Consul 649, Quintus Catu-
lus Consul 652, selbst der Regent Sulla; doch scheint keine die-
ser Productionen anders als durch ihren stofflichen Gehalt in die
Litteratur eingegriffen zu haben. Die Briefsammlung der Cornelia,
der Mutter der Gracchen, ist bemerkenswerth theils durch die
musterhaft reine Sprache und den hohen Sinn der Schreiberin,

LITTERATUR UND KUNST.
nennen, dem wir so viele ernstliche Belehrung verdanken wie
ihm. Seine Bücher sind wie die Sonne auf diesem Gebiet; wo sie
anfangen, da heben sich die Nebelschleier, die noch die samniti-
schen und den pyrrhischen Krieg bedecken, und wo sie endigen,
beginnt eine neue wo möglich noch lästigere Dämmerung.

In einem seltsamen Gegensatz zu dieser groſsartigen Auf-
fassung und Behandlung der römischen Geschichte durch einen
Ausländer steht die gleichzeitige einheimische Geschichtslitteratur.
Die Chroniken wurden immer zahlreicher und immer weitläuftiger
— genannt werden zum Beispiel die des Lucius Cassius Hemina
(um 608), des Lucius Calpurnius Piso (Consul 621), des Gaius
Fannius (Praetor 617), des Gaius Sempronius Tuditanus (Con-
sul 625) —, aber auch immer elender und die Unwissenheit ihrer
vornehmen Verfasser um so unerträglicher, je mehr im Allgemei-
nen die Bildung stieg. Wenn wir zum Beispiel bei Piso lesen,
daſs Romulus sich gehütet habe dann zu poculiren, wenn er
den andern Tag eine Sitzung gehabt; daſs die Tarpeia die Burg
den Sabinern aus Vaterlandsliebe verrathen habe um die Feinde
ihrer Schilde zu berauben: so kann das Urtheil verständiger Zeit-
genossen über diese ganze Schreiberei nicht befremden, ‚daſs das
nicht heiſse Geschichte schreiben, sondern den Kindern Ge-
schichten erzählen‘. Weit vorzüglicher waren einzelne Werke über
die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart,
namentlich die Geschichte des hannibalischen Krieges von Lucius
Caelius Antipater (um 633) und des wenig jüngeren Publius Sem-
pronius Asellio Geschichte seiner Zeit. Hier fand sich wenigstens
schätzbares Material und ernster Wahrheitssinn, bei Antipater
auch eine kräftige, wenn gleich etwas hausbackene Darstellung;
doch reichte, nach allen Zeugnissen und Bruchstücken zu
schlieſsen, keines dieser Bücher weder in markiger Form noch
in Originalität an die ‚Ursprünge‘ Catos, der leider auf dem hi-
storischen Gebiet so wenig wie auf dem politischen Schule ge-
macht hat. — Stark vertreten sind die untergeordneten mehr
individuellen und ephemeren Gattungen der historischen Littera-
tur, die Memoiren, die Briefe, die Reden. Schon zeichneten die
ersten Staatsmänner Roms selbst ihre Erlebnisse auf: so Marcus
Scaurus Consul 639, Publius Rufus Consul 649, Quintus Catu-
lus Consul 652, selbst der Regent Sulla; doch scheint keine die-
ser Productionen anders als durch ihren stofflichen Gehalt in die
Litteratur eingegriffen zu haben. Die Briefsammlung der Cornelia,
der Mutter der Gracchen, ist bemerkenswerth theils durch die
musterhaft reine Sprache und den hohen Sinn der Schreiberin,

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[431/0441] LITTERATUR UND KUNST. nennen, dem wir so viele ernstliche Belehrung verdanken wie ihm. Seine Bücher sind wie die Sonne auf diesem Gebiet; wo sie anfangen, da heben sich die Nebelschleier, die noch die samniti- schen und den pyrrhischen Krieg bedecken, und wo sie endigen, beginnt eine neue wo möglich noch lästigere Dämmerung. In einem seltsamen Gegensatz zu dieser groſsartigen Auf- fassung und Behandlung der römischen Geschichte durch einen Ausländer steht die gleichzeitige einheimische Geschichtslitteratur. Die Chroniken wurden immer zahlreicher und immer weitläuftiger — genannt werden zum Beispiel die des Lucius Cassius Hemina (um 608), des Lucius Calpurnius Piso (Consul 621), des Gaius Fannius (Praetor 617), des Gaius Sempronius Tuditanus (Con- sul 625) —, aber auch immer elender und die Unwissenheit ihrer vornehmen Verfasser um so unerträglicher, je mehr im Allgemei- nen die Bildung stieg. Wenn wir zum Beispiel bei Piso lesen, daſs Romulus sich gehütet habe dann zu poculiren, wenn er den andern Tag eine Sitzung gehabt; daſs die Tarpeia die Burg den Sabinern aus Vaterlandsliebe verrathen habe um die Feinde ihrer Schilde zu berauben: so kann das Urtheil verständiger Zeit- genossen über diese ganze Schreiberei nicht befremden, ‚daſs das nicht heiſse Geschichte schreiben, sondern den Kindern Ge- schichten erzählen‘. Weit vorzüglicher waren einzelne Werke über die Geschichte der jüngsten Vergangenheit und der Gegenwart, namentlich die Geschichte des hannibalischen Krieges von Lucius Caelius Antipater (um 633) und des wenig jüngeren Publius Sem- pronius Asellio Geschichte seiner Zeit. Hier fand sich wenigstens schätzbares Material und ernster Wahrheitssinn, bei Antipater auch eine kräftige, wenn gleich etwas hausbackene Darstellung; doch reichte, nach allen Zeugnissen und Bruchstücken zu schlieſsen, keines dieser Bücher weder in markiger Form noch in Originalität an die ‚Ursprünge‘ Catos, der leider auf dem hi- storischen Gebiet so wenig wie auf dem politischen Schule ge- macht hat. — Stark vertreten sind die untergeordneten mehr individuellen und ephemeren Gattungen der historischen Littera- tur, die Memoiren, die Briefe, die Reden. Schon zeichneten die ersten Staatsmänner Roms selbst ihre Erlebnisse auf: so Marcus Scaurus Consul 639, Publius Rufus Consul 649, Quintus Catu- lus Consul 652, selbst der Regent Sulla; doch scheint keine die- ser Productionen anders als durch ihren stofflichen Gehalt in die Litteratur eingegriffen zu haben. Die Briefsammlung der Cornelia, der Mutter der Gracchen, ist bemerkenswerth theils durch die musterhaft reine Sprache und den hohen Sinn der Schreiberin,

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/441>, abgerufen am 17.05.2024.