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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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zeichnen. Aber auch im Einzelnen zeigt sich ein löblicher und
liberaler Geist. So seltsam es von dem Urheber der Proscriptio-
nen klingen mag, so bleibt es darum nichts desto weniger wahr,
dass er die Todesstrafe für politische Vergehen abgeschafft hat;
denn da nach römischer auch von Sulla unverändert festgehal-
tener Sitte nur das Volk, nicht die Geschwornencommission auf
Verlust des Lebens oder auf gefängliche Haft erkennen konnte
(S. 102), so kam die Uebertragung der Hochverrathsprozesse
von der Bürgerschaft an eine stehende Commission auf die Ab-
schaffung der Todesstrafe für solche Vergehen hinaus, während
andererseits in der Beschränkung der verderblichen Specialcom-
missionen für einzelne Hochverrathsfälle, wie die varische (S. 219)
im Bundesgenossenkrieg gewesen war, gleichfalls ein Fortschritt
zum Bessern lag. Die gesammte Reform ist von ungemei-
nem und dauerndem Nutzen gewesen und ein bleibendes Denk-
mal des praktischen, gemässigten, staatsmännischen Geistes, der
ihren Urheber wohl würdig machte gleich den alten Decemvirn
als souveräner Vermittler mit der Rolle des Gesetzes zwischen die
Parteien zu treten. -- Als einen Nachtrag zu diesen Criminalge-
setzen mag man die polizeilichen Ordnungen betrachten, durch
welche Sulla, das Gesetz an die Stelle des Censors stellend, gute
Zucht und strenge Sitte wieder einschärfte und durch Feststel-
lung neuer Maximalsätze anstatt der alten längst verschollenen
den Luxus bei Mahlzeiten, Begräbnissen und sonst zu beschrän-
ken versuchte.

Endlich ist wenn nicht Sullas, doch das Werk der sullani-
schen Epoche die Entwicklung eines selbstständigen römischen
Municipalwesens. Dem Alterthum ist der Gedanke die Stadt als
ein untergeordnetes politisches Ganze dem höheren Staatsganzen
organisch einzufügen ursprünglich fremd; Stadt und Staat fällt
in der ganzen hellenisch-italischen Welt nothwendig zusammen
und anders ist es nur in der orientalischen Despotie. Insofern
giebt es in Griechenland wie in Italien von Haus aus ein eigenes
Municipalwesen nicht. Vor allem die römische Politik hielt mit
der ihr eigenen zähen Consequenz hieran fest; noch im sechsten
Jahrhundert wurden die abhängigen Gemeinden Italiens entweder,
um ihnen ihre municipale Verfassung zu bewahren, als formell
souveräne Nichtbürgerstaaten constituirt, oder, wenn sie römi-
sches Bürgerrecht erhielten, zwar nicht gehindert sich als Ge-
meinwesen zu constituiren, aber doch der eigentlich municipalen
Rechte beraubt, so dass in allen Bürgercolonien und Bürgermu-
nicipien selbst die Rechtspflege und das Bauwesen von den rö-

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zeichnen. Aber auch im Einzelnen zeigt sich ein löblicher und
liberaler Geist. So seltsam es von dem Urheber der Proscriptio-
nen klingen mag, so bleibt es darum nichts desto weniger wahr,
daſs er die Todesstrafe für politische Vergehen abgeschafft hat;
denn da nach römischer auch von Sulla unverändert festgehal-
tener Sitte nur das Volk, nicht die Geschwornencommission auf
Verlust des Lebens oder auf gefängliche Haft erkennen konnte
(S. 102), so kam die Uebertragung der Hochverrathsprozesse
von der Bürgerschaft an eine stehende Commission auf die Ab-
schaffung der Todesstrafe für solche Vergehen hinaus, während
andererseits in der Beschränkung der verderblichen Specialcom-
missionen für einzelne Hochverrathsfälle, wie die varische (S. 219)
im Bundesgenossenkrieg gewesen war, gleichfalls ein Fortschritt
zum Bessern lag. Die gesammte Reform ist von ungemei-
nem und dauerndem Nutzen gewesen und ein bleibendes Denk-
mal des praktischen, gemäſsigten, staatsmännischen Geistes, der
ihren Urheber wohl würdig machte gleich den alten Decemvirn
als souveräner Vermittler mit der Rolle des Gesetzes zwischen die
Parteien zu treten. — Als einen Nachtrag zu diesen Criminalge-
setzen mag man die polizeilichen Ordnungen betrachten, durch
welche Sulla, das Gesetz an die Stelle des Censors stellend, gute
Zucht und strenge Sitte wieder einschärfte und durch Feststel-
lung neuer Maximalsätze anstatt der alten längst verschollenen
den Luxus bei Mahlzeiten, Begräbnissen und sonst zu beschrän-
ken versuchte.

Endlich ist wenn nicht Sullas, doch das Werk der sullani-
schen Epoche die Entwicklung eines selbstständigen römischen
Municipalwesens. Dem Alterthum ist der Gedanke die Stadt als
ein untergeordnetes politisches Ganze dem höheren Staatsganzen
organisch einzufügen ursprünglich fremd; Stadt und Staat fällt
in der ganzen hellenisch-italischen Welt nothwendig zusammen
und anders ist es nur in der orientalischen Despotie. Insofern
giebt es in Griechenland wie in Italien von Haus aus ein eigenes
Municipalwesen nicht. Vor allem die römische Politik hielt mit
der ihr eigenen zähen Consequenz hieran fest; noch im sechsten
Jahrhundert wurden die abhängigen Gemeinden Italiens entweder,
um ihnen ihre municipale Verfassung zu bewahren, als formell
souveräne Nichtbürgerstaaten constituirt, oder, wenn sie römi-
sches Bürgerrecht erhielten, zwar nicht gehindert sich als Ge-
meinwesen zu constituiren, aber doch der eigentlich municipalen
Rechte beraubt, so daſs in allen Bürgercolonien und Bürgermu-
nicipien selbst die Rechtspflege und das Bauwesen von den rö-

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[344/0354] VIERTES BUCH. KAPITEL X. zeichnen. Aber auch im Einzelnen zeigt sich ein löblicher und liberaler Geist. So seltsam es von dem Urheber der Proscriptio- nen klingen mag, so bleibt es darum nichts desto weniger wahr, daſs er die Todesstrafe für politische Vergehen abgeschafft hat; denn da nach römischer auch von Sulla unverändert festgehal- tener Sitte nur das Volk, nicht die Geschwornencommission auf Verlust des Lebens oder auf gefängliche Haft erkennen konnte (S. 102), so kam die Uebertragung der Hochverrathsprozesse von der Bürgerschaft an eine stehende Commission auf die Ab- schaffung der Todesstrafe für solche Vergehen hinaus, während andererseits in der Beschränkung der verderblichen Specialcom- missionen für einzelne Hochverrathsfälle, wie die varische (S. 219) im Bundesgenossenkrieg gewesen war, gleichfalls ein Fortschritt zum Bessern lag. Die gesammte Reform ist von ungemei- nem und dauerndem Nutzen gewesen und ein bleibendes Denk- mal des praktischen, gemäſsigten, staatsmännischen Geistes, der ihren Urheber wohl würdig machte gleich den alten Decemvirn als souveräner Vermittler mit der Rolle des Gesetzes zwischen die Parteien zu treten. — Als einen Nachtrag zu diesen Criminalge- setzen mag man die polizeilichen Ordnungen betrachten, durch welche Sulla, das Gesetz an die Stelle des Censors stellend, gute Zucht und strenge Sitte wieder einschärfte und durch Feststel- lung neuer Maximalsätze anstatt der alten längst verschollenen den Luxus bei Mahlzeiten, Begräbnissen und sonst zu beschrän- ken versuchte. Endlich ist wenn nicht Sullas, doch das Werk der sullani- schen Epoche die Entwicklung eines selbstständigen römischen Municipalwesens. Dem Alterthum ist der Gedanke die Stadt als ein untergeordnetes politisches Ganze dem höheren Staatsganzen organisch einzufügen ursprünglich fremd; Stadt und Staat fällt in der ganzen hellenisch-italischen Welt nothwendig zusammen und anders ist es nur in der orientalischen Despotie. Insofern giebt es in Griechenland wie in Italien von Haus aus ein eigenes Municipalwesen nicht. Vor allem die römische Politik hielt mit der ihr eigenen zähen Consequenz hieran fest; noch im sechsten Jahrhundert wurden die abhängigen Gemeinden Italiens entweder, um ihnen ihre municipale Verfassung zu bewahren, als formell souveräne Nichtbürgerstaaten constituirt, oder, wenn sie römi- sches Bürgerrecht erhielten, zwar nicht gehindert sich als Ge- meinwesen zu constituiren, aber doch der eigentlich municipalen Rechte beraubt, so daſs in allen Bürgercolonien und Bürgermu- nicipien selbst die Rechtspflege und das Bauwesen von den rö-

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/354>, abgerufen am 23.11.2024.