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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
sondern dem dringenden Stand der Dinge im Osten nachgebend,
sich eingeschifft hatte, legte Cinna sofort die Gesetzentwürfe vor,
wodurch man übereingekommen war gegen die sullanische Re-
stauration von 666 theilweise zu reagiren; sie enthielten die po-
litische Gleichstellung der Neubürger und der Freigelassenen, wie
Sulpicius sie beantragt hatte, und die Wiedereinsetzung der in
Folge der sulpicischen Revolution Geächteten in den vorigen
Stand. In Masse strömten die Neubürger nach der Hauptstadt,
um dort mit den Freigelassenen zugleich die Gegner einzu-
schüchtern und nöthigenfalls zu zwingen, und beiderseits er-
schien man am Tage der Abstimmung grossentheils bewaffnet auf
dem Stimmplatz. Als nun gegen die oligarchisch gesinnten Tri-
bunen, die Intercession einlegten, auf der Rednerbühne selbst
die Schwerter gezückt wurden, schritt Cinnas College, der oligar-
chisch gesinnte Gnaeus Octavius gegen die Gewaltthäter gewalt-
thätig ein; seine geschlossenen Haufen bewaffneter Männer säu-
berten nicht bloss die heilige Strasse und den Marktplatz, son-
dern wütheten auch, der Befehle ihres milder gesinnten Führers
nicht achtend, in grauenhafter Weise gegen die versammelten
Haufen. Der Marktplatz schwamm in Blut an diesem ,Octaviustag',
wie niemals vor- oder nachher -- auf zehntausend schätzte man
die Zahl der Leichen. Cinna rief die Sclaven auf sich durch
Theilnahme an dem Kampf die Freiheit zu erkaufen; aber sein
Ruf war ebenso erfolglos wie der gleiche des Marius das Jahr zu-
vor und es blieb den Führern der Bewegung nichts übrig als zu
flüchten. Durch Beschluss des Senats, der freilich verfassungs-
widrig, aber durch die Umstände gerechtfertigt war, ward der
Consul Cinna seines Amtes entsetzt, an seiner Stelle Lucius Cor-
nelius Merula gewählt und gegen die flüchtigen Häupter die Acht
ausgesprochen. Die ganze Bewegung schien damit endigen zu
sollen, dass die Zahl der ausgetretenen Männer in Numidien um
einige Köpfe sich vermehrte.

Ohne Zweifel wäre auch bei der Bewegung nichts weiter
herausgekommen, wenn nicht theils der Senat in seiner gewöhn-
lichen Schlaffheit es unterlassen hätte gegen die Flüchtlinge die
erforderlichen Sicherheitsmassregeln zu ergreifen, theils diesen
die Möglichkeit gegeben wäre als Verfechter der Emancipation
der Neubürger gewissermassen den Aufstand der Italiker zu ihren
Gunsten zu erneuern. Ungehindert erschienen sie in Tibur, in
Praeneste, in allen bedeutenden Neubürgergemeinden Latiums
und Campaniens und forderten und erhielten zur Durchführung
der gemeinschaftlichen Sache überall Geld und Mannschaft. So

VIERTES BUCH. KAPITEL IX.
sondern dem dringenden Stand der Dinge im Osten nachgebend,
sich eingeschifft hatte, legte Cinna sofort die Gesetzentwürfe vor,
wodurch man übereingekommen war gegen die sullanische Re-
stauration von 666 theilweise zu reagiren; sie enthielten die po-
litische Gleichstellung der Neubürger und der Freigelassenen, wie
Sulpicius sie beantragt hatte, und die Wiedereinsetzung der in
Folge der sulpicischen Revolution Geächteten in den vorigen
Stand. In Masse strömten die Neubürger nach der Hauptstadt,
um dort mit den Freigelassenen zugleich die Gegner einzu-
schüchtern und nöthigenfalls zu zwingen, und beiderseits er-
schien man am Tage der Abstimmung groſsentheils bewaffnet auf
dem Stimmplatz. Als nun gegen die oligarchisch gesinnten Tri-
bunen, die Intercession einlegten, auf der Rednerbühne selbst
die Schwerter gezückt wurden, schritt Cinnas College, der oligar-
chisch gesinnte Gnaeus Octavius gegen die Gewaltthäter gewalt-
thätig ein; seine geschlossenen Haufen bewaffneter Männer säu-
berten nicht bloſs die heilige Straſse und den Marktplatz, son-
dern wütheten auch, der Befehle ihres milder gesinnten Führers
nicht achtend, in grauenhafter Weise gegen die versammelten
Haufen. Der Marktplatz schwamm in Blut an diesem ‚Octaviustag‘,
wie niemals vor- oder nachher — auf zehntausend schätzte man
die Zahl der Leichen. Cinna rief die Sclaven auf sich durch
Theilnahme an dem Kampf die Freiheit zu erkaufen; aber sein
Ruf war ebenso erfolglos wie der gleiche des Marius das Jahr zu-
vor und es blieb den Führern der Bewegung nichts übrig als zu
flüchten. Durch Beschluſs des Senats, der freilich verfassungs-
widrig, aber durch die Umstände gerechtfertigt war, ward der
Consul Cinna seines Amtes entsetzt, an seiner Stelle Lucius Cor-
nelius Merula gewählt und gegen die flüchtigen Häupter die Acht
ausgesprochen. Die ganze Bewegung schien damit endigen zu
sollen, daſs die Zahl der ausgetretenen Männer in Numidien um
einige Köpfe sich vermehrte.

Ohne Zweifel wäre auch bei der Bewegung nichts weiter
herausgekommen, wenn nicht theils der Senat in seiner gewöhn-
lichen Schlaffheit es unterlassen hätte gegen die Flüchtlinge die
erforderlichen Sicherheitsmaſsregeln zu ergreifen, theils diesen
die Möglichkeit gegeben wäre als Verfechter der Emancipation
der Neubürger gewissermaſsen den Aufstand der Italiker zu ihren
Gunsten zu erneuern. Ungehindert erschienen sie in Tibur, in
Praeneste, in allen bedeutenden Neubürgergemeinden Latiums
und Campaniens und forderten und erhielten zur Durchführung
der gemeinschaftlichen Sache überall Geld und Mannschaft. So

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[294/0304] VIERTES BUCH. KAPITEL IX. sondern dem dringenden Stand der Dinge im Osten nachgebend, sich eingeschifft hatte, legte Cinna sofort die Gesetzentwürfe vor, wodurch man übereingekommen war gegen die sullanische Re- stauration von 666 theilweise zu reagiren; sie enthielten die po- litische Gleichstellung der Neubürger und der Freigelassenen, wie Sulpicius sie beantragt hatte, und die Wiedereinsetzung der in Folge der sulpicischen Revolution Geächteten in den vorigen Stand. In Masse strömten die Neubürger nach der Hauptstadt, um dort mit den Freigelassenen zugleich die Gegner einzu- schüchtern und nöthigenfalls zu zwingen, und beiderseits er- schien man am Tage der Abstimmung groſsentheils bewaffnet auf dem Stimmplatz. Als nun gegen die oligarchisch gesinnten Tri- bunen, die Intercession einlegten, auf der Rednerbühne selbst die Schwerter gezückt wurden, schritt Cinnas College, der oligar- chisch gesinnte Gnaeus Octavius gegen die Gewaltthäter gewalt- thätig ein; seine geschlossenen Haufen bewaffneter Männer säu- berten nicht bloſs die heilige Straſse und den Marktplatz, son- dern wütheten auch, der Befehle ihres milder gesinnten Führers nicht achtend, in grauenhafter Weise gegen die versammelten Haufen. Der Marktplatz schwamm in Blut an diesem ‚Octaviustag‘, wie niemals vor- oder nachher — auf zehntausend schätzte man die Zahl der Leichen. Cinna rief die Sclaven auf sich durch Theilnahme an dem Kampf die Freiheit zu erkaufen; aber sein Ruf war ebenso erfolglos wie der gleiche des Marius das Jahr zu- vor und es blieb den Führern der Bewegung nichts übrig als zu flüchten. Durch Beschluſs des Senats, der freilich verfassungs- widrig, aber durch die Umstände gerechtfertigt war, ward der Consul Cinna seines Amtes entsetzt, an seiner Stelle Lucius Cor- nelius Merula gewählt und gegen die flüchtigen Häupter die Acht ausgesprochen. Die ganze Bewegung schien damit endigen zu sollen, daſs die Zahl der ausgetretenen Männer in Numidien um einige Köpfe sich vermehrte. Ohne Zweifel wäre auch bei der Bewegung nichts weiter herausgekommen, wenn nicht theils der Senat in seiner gewöhn- lichen Schlaffheit es unterlassen hätte gegen die Flüchtlinge die erforderlichen Sicherheitsmaſsregeln zu ergreifen, theils diesen die Möglichkeit gegeben wäre als Verfechter der Emancipation der Neubürger gewissermaſsen den Aufstand der Italiker zu ihren Gunsten zu erneuern. Ungehindert erschienen sie in Tibur, in Praeneste, in allen bedeutenden Neubürgergemeinden Latiums und Campaniens und forderten und erhielten zur Durchführung der gemeinschaftlichen Sache überall Geld und Mannschaft. So

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/304>, abgerufen am 15.05.2024.