Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Nola, die rasche Capitulation der festen und grossen latinischen
Colonie Venusia, der umbrisch-etruskische Aufstand waren be-
denkliche Zeichen, dass die römische Symmachie in ihren festesten
Fugen zu wanken beginne und dass sie nicht mehr fähig sei eine
zweite Feuerprobe zu bestehen. Schon hatte man der Bürger-
schaft das Aeusserste zugemuthet, schon um jene Postenkette an
der latinisch-campanischen Küste zu bilden gegen 6000 Frei-
gelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon von den noch treu
gebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer gefordert; es
war nicht möglich die Sehne des Bogens noch schärfer anzu-
ziehen ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der Bür-
gerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am To-
lenus, als der Consul und die zahlreichen mit ihm gefallenen
namhaften Bürger von dem nahen Schlachtfeld nach der Haupt-
stadt als Leichen zurückgebracht und daselbst bestattet wurden,
als die Beamten zum Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur
und die Ehrenabzeichen von sich legten, als von der Regierung
an die hauptstädtischen Bewohner der Befehl erging in Masse
sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der Verzweiflung
überlassen und Alles verloren geglaubt. Zwar war die schlimmste
Entmuthigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von
Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des
erstern hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit
dem Bürgerkleid vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der
Landestrauer abgelegt; aber es war doch nicht zweifelhaft, dass
im Ganzen die Römer in diesem Waffengang den Kürzern gezo-
gen hatten, und von dem starren Eigensinn, der zähen Conse-
quenz, die vor hundert Jahren Senat und Bürgerschaft durch die
Gefahren des hannibalischen Krieges hindurch getragen hatten,
war in den Enkeln wenig mehr zu finden. Man hätte zunächst
wohl noch vermocht bei dem alten Trotz zu beharren; bei
dem herrschenden schlaffen und feigen Geiste aber war es kein
Wunder, dass schon nach dem ersten Kriegsjahr die Stimmung
der Bürgerschaft vollständig umschlug, und es ist kaum zu be-
zweifeln, dass man damit, wenn auch nicht aus Klugheit, doch
das Klügste that was man thun konnte. Die innere und äussere
Politik wurde plötzlich anders. Das Jahr 664 hatte begonnen
mit der schroffesten Zurückweisung des von den Insurgenten an-
gebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Prozesskriegs,
in welchem die leidenschaftlichsten Vertheidiger des patriotischen
Egoismus, die Capitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen
die im Verdacht standen der Mässigung und der rechtzeitigen

VIERTES BUCH. KAPITEL VII.
Nola, die rasche Capitulation der festen und groſsen latinischen
Colonie Venusia, der umbrisch-etruskische Aufstand waren be-
denkliche Zeichen, daſs die römische Symmachie in ihren festesten
Fugen zu wanken beginne und daſs sie nicht mehr fähig sei eine
zweite Feuerprobe zu bestehen. Schon hatte man der Bürger-
schaft das Aeuſserste zugemuthet, schon um jene Postenkette an
der latinisch-campanischen Küste zu bilden gegen 6000 Frei-
gelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon von den noch treu
gebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer gefordert; es
war nicht möglich die Sehne des Bogens noch schärfer anzu-
ziehen ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der Bür-
gerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am To-
lenus, als der Consul und die zahlreichen mit ihm gefallenen
namhaften Bürger von dem nahen Schlachtfeld nach der Haupt-
stadt als Leichen zurückgebracht und daselbst bestattet wurden,
als die Beamten zum Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur
und die Ehrenabzeichen von sich legten, als von der Regierung
an die hauptstädtischen Bewohner der Befehl erging in Masse
sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der Verzweiflung
überlassen und Alles verloren geglaubt. Zwar war die schlimmste
Entmuthigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von
Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des
erstern hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit
dem Bürgerkleid vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der
Landestrauer abgelegt; aber es war doch nicht zweifelhaft, daſs
im Ganzen die Römer in diesem Waffengang den Kürzern gezo-
gen hatten, und von dem starren Eigensinn, der zähen Conse-
quenz, die vor hundert Jahren Senat und Bürgerschaft durch die
Gefahren des hannibalischen Krieges hindurch getragen hatten,
war in den Enkeln wenig mehr zu finden. Man hätte zunächst
wohl noch vermocht bei dem alten Trotz zu beharren; bei
dem herrschenden schlaffen und feigen Geiste aber war es kein
Wunder, daſs schon nach dem ersten Kriegsjahr die Stimmung
der Bürgerschaft vollständig umschlug, und es ist kaum zu be-
zweifeln, daſs man damit, wenn auch nicht aus Klugheit, doch
das Klügste that was man thun konnte. Die innere und äuſsere
Politik wurde plötzlich anders. Das Jahr 664 hatte begonnen
mit der schroffesten Zurückweisung des von den Insurgenten an-
gebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Prozeſskriegs,
in welchem die leidenschaftlichsten Vertheidiger des patriotischen
Egoismus, die Capitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen
die im Verdacht standen der Mäſsigung und der rechtzeitigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0238" n="228"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL VII.</fw><lb/>
Nola, die rasche Capitulation der festen und gro&#x017F;sen latinischen<lb/>
Colonie Venusia, der umbrisch-etruskische Aufstand waren be-<lb/>
denkliche Zeichen, da&#x017F;s die römische Symmachie in ihren festesten<lb/>
Fugen zu wanken beginne und da&#x017F;s sie nicht mehr fähig sei eine<lb/>
zweite Feuerprobe zu bestehen. Schon hatte man der Bürger-<lb/>
schaft das Aeu&#x017F;serste zugemuthet, schon um jene Postenkette an<lb/>
der latinisch-campanischen Küste zu bilden gegen 6000 Frei-<lb/>
gelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon von den noch treu<lb/>
gebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer gefordert; es<lb/>
war nicht möglich die Sehne des Bogens noch schärfer anzu-<lb/>
ziehen ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der Bür-<lb/>
gerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am To-<lb/>
lenus, als der Consul und die zahlreichen mit ihm gefallenen<lb/>
namhaften Bürger von dem nahen Schlachtfeld nach der Haupt-<lb/>
stadt als Leichen zurückgebracht und daselbst bestattet wurden,<lb/>
als die Beamten zum Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur<lb/>
und die Ehrenabzeichen von sich legten, als von der Regierung<lb/>
an die hauptstädtischen Bewohner der Befehl erging in Masse<lb/>
sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der Verzweiflung<lb/>
überlassen und Alles verloren geglaubt. Zwar war die schlimmste<lb/>
Entmuthigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von<lb/>
Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des<lb/>
erstern hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit<lb/>
dem Bürgerkleid vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der<lb/>
Landestrauer abgelegt; aber es war doch nicht zweifelhaft, da&#x017F;s<lb/>
im Ganzen die Römer in diesem Waffengang den Kürzern gezo-<lb/>
gen hatten, und von dem starren Eigensinn, der zähen Conse-<lb/>
quenz, die vor hundert Jahren Senat und Bürgerschaft durch die<lb/>
Gefahren des hannibalischen Krieges hindurch getragen hatten,<lb/>
war in den Enkeln wenig mehr zu finden. Man hätte zunächst<lb/>
wohl noch vermocht bei dem alten Trotz zu beharren; bei<lb/>
dem herrschenden schlaffen und feigen Geiste aber war es kein<lb/>
Wunder, da&#x017F;s schon nach dem ersten Kriegsjahr die Stimmung<lb/>
der Bürgerschaft vollständig umschlug, und es ist kaum zu be-<lb/>
zweifeln, da&#x017F;s man damit, wenn auch nicht aus Klugheit, doch<lb/>
das Klügste that was man thun konnte. Die innere und äu&#x017F;sere<lb/>
Politik wurde plötzlich anders. Das Jahr 664 hatte begonnen<lb/>
mit der schroffesten Zurückweisung des von den Insurgenten an-<lb/>
gebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Proze&#x017F;skriegs,<lb/>
in welchem die leidenschaftlichsten Vertheidiger des patriotischen<lb/>
Egoismus, die Capitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen<lb/>
die im Verdacht standen der Mä&#x017F;sigung und der rechtzeitigen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0238] VIERTES BUCH. KAPITEL VII. Nola, die rasche Capitulation der festen und groſsen latinischen Colonie Venusia, der umbrisch-etruskische Aufstand waren be- denkliche Zeichen, daſs die römische Symmachie in ihren festesten Fugen zu wanken beginne und daſs sie nicht mehr fähig sei eine zweite Feuerprobe zu bestehen. Schon hatte man der Bürger- schaft das Aeuſserste zugemuthet, schon um jene Postenkette an der latinisch-campanischen Küste zu bilden gegen 6000 Frei- gelassene in die Bürgermiliz eingereiht, schon von den noch treu gebliebenen Bundesgenossen die schwersten Opfer gefordert; es war nicht möglich die Sehne des Bogens noch schärfer anzu- ziehen ohne alles aufs Spiel zu setzen. Die Stimmung der Bür- gerschaft war unglaublich gedrückt. Nach der Schlacht am To- lenus, als der Consul und die zahlreichen mit ihm gefallenen namhaften Bürger von dem nahen Schlachtfeld nach der Haupt- stadt als Leichen zurückgebracht und daselbst bestattet wurden, als die Beamten zum Zeichen der öffentlichen Trauer den Purpur und die Ehrenabzeichen von sich legten, als von der Regierung an die hauptstädtischen Bewohner der Befehl erging in Masse sich zu bewaffnen, hatten nicht wenige sich der Verzweiflung überlassen und Alles verloren geglaubt. Zwar war die schlimmste Entmuthigung gewichen nach den von Caesar bei Acerrae, von Strabo im Picenischen erfochtenen Siegen; auf die Meldung des erstern hatte man in der Hauptstadt den Kriegsrock wieder mit dem Bürgerkleid vertauscht, auf die des zweiten die Zeichen der Landestrauer abgelegt; aber es war doch nicht zweifelhaft, daſs im Ganzen die Römer in diesem Waffengang den Kürzern gezo- gen hatten, und von dem starren Eigensinn, der zähen Conse- quenz, die vor hundert Jahren Senat und Bürgerschaft durch die Gefahren des hannibalischen Krieges hindurch getragen hatten, war in den Enkeln wenig mehr zu finden. Man hätte zunächst wohl noch vermocht bei dem alten Trotz zu beharren; bei dem herrschenden schlaffen und feigen Geiste aber war es kein Wunder, daſs schon nach dem ersten Kriegsjahr die Stimmung der Bürgerschaft vollständig umschlug, und es ist kaum zu be- zweifeln, daſs man damit, wenn auch nicht aus Klugheit, doch das Klügste that was man thun konnte. Die innere und äuſsere Politik wurde plötzlich anders. Das Jahr 664 hatte begonnen mit der schroffesten Zurückweisung des von den Insurgenten an- gebotenen Vergleichs und mit der Eröffnung eines Prozeſskriegs, in welchem die leidenschaftlichsten Vertheidiger des patriotischen Egoismus, die Capitalisten, Rache nahmen an allen denjenigen die im Verdacht standen der Mäſsigung und der rechtzeitigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/238
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/238>, abgerufen am 24.11.2024.