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Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.

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mische Bürgerschaft sich abgeschlossen und die Ertheilung des
Bürgerrechts an ganze Gemeinden vollständig aufgegeben, die an
einzelne Personen sehr beschränkt (I, 609). Selbst das altlati-
nische Recht der vollen Freizügigkeit, die dem nach Rom über-
siedelnden latinischen Bürger daselbst das Passivbürgerrecht
gewährte, war den betreffenden Communen in verletzender Weise
verkürzt worden (I, 610. 611). Jetzt ging man noch einen
Schritt weiter: bei Gelegenheit der die Erstreckung des römischen
Bürgerrechts auf ganz Italien bezweckenden Agitation in den
J. 628. 632 griff man das Uebersiedlungsrecht selbst an und
wies geradezu die sämmtlichen in Rom sich aufhaltenden Nicht-
bürger durch Volks- und Senatschluss aus der Hauptstadt aus
(S. 96. 113); eine ebenso durch ihre Illiberalität gehässige als
durch die vielfach verletzten Privatinteressen gefährliche Mass-
regel. Kurz, wenn die italischen Bundesgenossen zu den Römern
früher gestanden hatten theils als bevormundete Brüder, die
mehr beschützt als beherrscht und nicht zu ewiger Unmündig-
keit bestimmt waren, theils als leidlich gehaltene und der Hoff-
nung auf die Freilassung nicht völlig beraubte Knechte, so stan-
den sie jetzt sämmtlich ungefähr in gleicher Unterthänigkeit und
gleicher Hoffnungslosigkeit unter den Ruthen und Beilen ihrer
Zwingherrn und durften höchstens als bevorrechtete Knechte sich
es herausnehmen die von den Herren empfangenen Fusstritte an
die armen Provinzialen weiter zu geben.

Es liegt in der Natur solcher Zerwürfnisse, dass sie anfangs,
zurückgehalten durch das Gefühl der nationalen Einheit und die
Erinnerung gemeinschaftlich überdauerter Gefahr, leise und
gleichsam bescheiden auftreten, bis allmählich der Riss sich er-
weitert und einerseits die Tyrannei, andrerseits der Groll un-
verholen sich offenbart. Bis zu der Empörung und Schleifung
von Fregellae im J. 629, die gleichsam officiell den veränderten
Charakter der römischen Herrschaft constatirte, trug die Gährung
unter den Italikern nicht eigentlich einen revolutionären Charakter.
Das Begehren nach Gleichberechtigung hatte allmählich sich gestei-
gert von stillem Wunsch zur lauten Bitte, um nur desto entschie-
dener, je bestimmter es auftrat, abgewiesen zu werden. Sehr bald
konnte man erkennen, dass eine gutwillige Gewährung nicht zu hof-
fen sei und der Wunsch das Verweigerte zu ertrotzen wird nicht
gefehlt haben; allein bei Roms damaliger Stellung fehlte die Mög-
lichkeit ihn zu verwirklichen. Obwohl das Zahlenverhältniss der
Bürger und Nichtbürger in Italien sich nicht genau ermitteln
lässt, so kann es doch als ausgemacht gelten, dass die Zahl der

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mische Bürgerschaft sich abgeschlossen und die Ertheilung des
Bürgerrechts an ganze Gemeinden vollständig aufgegeben, die an
einzelne Personen sehr beschränkt (I, 609). Selbst das altlati-
nische Recht der vollen Freizügigkeit, die dem nach Rom über-
siedelnden latinischen Bürger daselbst das Passivbürgerrecht
gewährte, war den betreffenden Communen in verletzender Weise
verkürzt worden (I, 610. 611). Jetzt ging man noch einen
Schritt weiter: bei Gelegenheit der die Erstreckung des römischen
Bürgerrechts auf ganz Italien bezweckenden Agitation in den
J. 628. 632 griff man das Uebersiedlungsrecht selbst an und
wies geradezu die sämmtlichen in Rom sich aufhaltenden Nicht-
bürger durch Volks- und Senatschluſs aus der Hauptstadt aus
(S. 96. 113); eine ebenso durch ihre Illiberalität gehässige als
durch die vielfach verletzten Privatinteressen gefährliche Maſs-
regel. Kurz, wenn die italischen Bundesgenossen zu den Römern
früher gestanden hatten theils als bevormundete Brüder, die
mehr beschützt als beherrscht und nicht zu ewiger Unmündig-
keit bestimmt waren, theils als leidlich gehaltene und der Hoff-
nung auf die Freilassung nicht völlig beraubte Knechte, so stan-
den sie jetzt sämmtlich ungefähr in gleicher Unterthänigkeit und
gleicher Hoffnungslosigkeit unter den Ruthen und Beilen ihrer
Zwingherrn und durften höchstens als bevorrechtete Knechte sich
es herausnehmen die von den Herren empfangenen Fuſstritte an
die armen Provinzialen weiter zu geben.

Es liegt in der Natur solcher Zerwürfnisse, daſs sie anfangs,
zurückgehalten durch das Gefühl der nationalen Einheit und die
Erinnerung gemeinschaftlich überdauerter Gefahr, leise und
gleichsam bescheiden auftreten, bis allmählich der Riſs sich er-
weitert und einerseits die Tyrannei, andrerseits der Groll un-
verholen sich offenbart. Bis zu der Empörung und Schleifung
von Fregellae im J. 629, die gleichsam officiell den veränderten
Charakter der römischen Herrschaft constatirte, trug die Gährung
unter den Italikern nicht eigentlich einen revolutionären Charakter.
Das Begehren nach Gleichberechtigung hatte allmählich sich gestei-
gert von stillem Wunsch zur lauten Bitte, um nur desto entschie-
dener, je bestimmter es auftrat, abgewiesen zu werden. Sehr bald
konnte man erkennen, daſs eine gutwillige Gewährung nicht zu hof-
fen sei und der Wunsch das Verweigerte zu ertrotzen wird nicht
gefehlt haben; allein bei Roms damaliger Stellung fehlte die Mög-
lichkeit ihn zu verwirklichen. Obwohl das Zahlenverhältniſs der
Bürger und Nichtbürger in Italien sich nicht genau ermitteln
läſst, so kann es doch als ausgemacht gelten, daſs die Zahl der

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[212/0222] VIERTES BUCH. KAPITEL VII. mische Bürgerschaft sich abgeschlossen und die Ertheilung des Bürgerrechts an ganze Gemeinden vollständig aufgegeben, die an einzelne Personen sehr beschränkt (I, 609). Selbst das altlati- nische Recht der vollen Freizügigkeit, die dem nach Rom über- siedelnden latinischen Bürger daselbst das Passivbürgerrecht gewährte, war den betreffenden Communen in verletzender Weise verkürzt worden (I, 610. 611). Jetzt ging man noch einen Schritt weiter: bei Gelegenheit der die Erstreckung des römischen Bürgerrechts auf ganz Italien bezweckenden Agitation in den J. 628. 632 griff man das Uebersiedlungsrecht selbst an und wies geradezu die sämmtlichen in Rom sich aufhaltenden Nicht- bürger durch Volks- und Senatschluſs aus der Hauptstadt aus (S. 96. 113); eine ebenso durch ihre Illiberalität gehässige als durch die vielfach verletzten Privatinteressen gefährliche Maſs- regel. Kurz, wenn die italischen Bundesgenossen zu den Römern früher gestanden hatten theils als bevormundete Brüder, die mehr beschützt als beherrscht und nicht zu ewiger Unmündig- keit bestimmt waren, theils als leidlich gehaltene und der Hoff- nung auf die Freilassung nicht völlig beraubte Knechte, so stan- den sie jetzt sämmtlich ungefähr in gleicher Unterthänigkeit und gleicher Hoffnungslosigkeit unter den Ruthen und Beilen ihrer Zwingherrn und durften höchstens als bevorrechtete Knechte sich es herausnehmen die von den Herren empfangenen Fuſstritte an die armen Provinzialen weiter zu geben. Es liegt in der Natur solcher Zerwürfnisse, daſs sie anfangs, zurückgehalten durch das Gefühl der nationalen Einheit und die Erinnerung gemeinschaftlich überdauerter Gefahr, leise und gleichsam bescheiden auftreten, bis allmählich der Riſs sich er- weitert und einerseits die Tyrannei, andrerseits der Groll un- verholen sich offenbart. Bis zu der Empörung und Schleifung von Fregellae im J. 629, die gleichsam officiell den veränderten Charakter der römischen Herrschaft constatirte, trug die Gährung unter den Italikern nicht eigentlich einen revolutionären Charakter. Das Begehren nach Gleichberechtigung hatte allmählich sich gestei- gert von stillem Wunsch zur lauten Bitte, um nur desto entschie- dener, je bestimmter es auftrat, abgewiesen zu werden. Sehr bald konnte man erkennen, daſs eine gutwillige Gewährung nicht zu hof- fen sei und der Wunsch das Verweigerte zu ertrotzen wird nicht gefehlt haben; allein bei Roms damaliger Stellung fehlte die Mög- lichkeit ihn zu verwirklichen. Obwohl das Zahlenverhältniſs der Bürger und Nichtbürger in Italien sich nicht genau ermitteln läſst, so kann es doch als ausgemacht gelten, daſs die Zahl der

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Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische02_1855/222>, abgerufen am 25.11.2024.