Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 2: Von der Schlacht bei Pydna bis auf Sullas Tod. Leipzig, 1855.VIERTES BUCH. KAPITEL V. nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen geworden war.Sie kamen aus dem Norden und stiessen unter den Kelten zuerst, so weit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen. Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt haben die Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt * und kann auch durch keine Muthmassung ergänzt werden, da die derzeitigen Zustände nördlich von Böhmen und dem Main und östlich vom unteren Rheine unseren Blicken sich vollständig entziehen. Da- gegen dafür, dass die Kimbrer und nicht minder der gleichartige ihnen später sich anschliessende Schwarm der Teutonen ihrem Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Rö- mer sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen die bestimmtesten Thatsachen: das Erscheinen zweier kleiner gleichnamiger Stämme, vielleicht in den Ursitzen zurückgebliebe- ner Reste, der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen im nordöstlichen Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo schon Alexander des Grossen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des Bernsteinhandels der Teutonen gedenkt; die Verzeichnung der Kimbern und Teutonen in der germanischen Völkertafel unter den Ingaevonen neben den Chaukern; das Urtheil Caesars, der zuerst die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten kennen lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen haben muss, den Deutschen beizählte; endlich die Völkernamen selbst und die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges Wesen, die zwar auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwie- gend auf die Deutschen passen. Andererseits ist es begreiflich, dass ein solcher Schwarm, nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der Wanderschaft sich befunden und ohne Zweifel jeden Waffenbruder, der sich anschloss, willkommen geheissen hatte, auf seinen Zügen an und in dem Keltenland eine Menge keltischer Elemente in sich aufgenommen hatte; so dass es nicht befremdet, wenn Män- ner keltischen Namens an der Spitze stehen oder wenn die Rö- mer sich keltisch redender Spione bedienen um bei ihnen zu kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessen gleichen die Römer noch nicht gesehen hatten; nicht eine Heerfahrt reisiger Mannschaft, sondern ein wanderndes Volk, das mit Weib und * Denn der Bericht, dass an den Küsten der Nordsee durch Sturmflu-
then grosse Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Aus- wanderung der Kimbrer veranlasst worden sei (Strabon 7, 293), erscheint zwar uns nicht, wie den griechischen Forschern, mährchenhaft; allein ob er auf Sage oder Ueberlieferung sich gründet, ist nicht zu entscheiden. VIERTES BUCH. KAPITEL V. nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen geworden war.Sie kamen aus dem Norden und stieſsen unter den Kelten zuerst, so weit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen. Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt haben die Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt * und kann auch durch keine Muthmaſsung ergänzt werden, da die derzeitigen Zustände nördlich von Böhmen und dem Main und östlich vom unteren Rheine unseren Blicken sich vollständig entziehen. Da- gegen dafür, daſs die Kimbrer und nicht minder der gleichartige ihnen später sich anschlieſsende Schwarm der Teutonen ihrem Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Rö- mer sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen die bestimmtesten Thatsachen: das Erscheinen zweier kleiner gleichnamiger Stämme, vielleicht in den Ursitzen zurückgebliebe- ner Reste, der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen im nordöstlichen Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo schon Alexander des Groſsen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des Bernsteinhandels der Teutonen gedenkt; die Verzeichnung der Kimbern und Teutonen in der germanischen Völkertafel unter den Ingaevonen neben den Chaukern; das Urtheil Caesars, der zuerst die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten kennen lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen haben muſs, den Deutschen beizählte; endlich die Völkernamen selbst und die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges Wesen, die zwar auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwie- gend auf die Deutschen passen. Andererseits ist es begreiflich, daſs ein solcher Schwarm, nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der Wanderschaft sich befunden und ohne Zweifel jeden Waffenbruder, der sich anschloſs, willkommen geheiſsen hatte, auf seinen Zügen an und in dem Keltenland eine Menge keltischer Elemente in sich aufgenommen hatte; so daſs es nicht befremdet, wenn Män- ner keltischen Namens an der Spitze stehen oder wenn die Rö- mer sich keltisch redender Spione bedienen um bei ihnen zu kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessen gleichen die Römer noch nicht gesehen hatten; nicht eine Heerfahrt reisiger Mannschaft, sondern ein wanderndes Volk, das mit Weib und * Denn der Bericht, daſs an den Küsten der Nordsee durch Sturmflu-
then groſse Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Aus- wanderung der Kimbrer veranlaſst worden sei (Strabon 7, 293), erscheint zwar uns nicht, wie den griechischen Forschern, mährchenhaft; allein ob er auf Sage oder Ueberlieferung sich gründet, ist nicht zu entscheiden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0174" n="164"/><fw place="top" type="header">VIERTES BUCH. KAPITEL V.</fw><lb/> nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen geworden war.<lb/> Sie kamen aus dem Norden und stieſsen unter den Kelten zuerst,<lb/> so weit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen.<lb/> Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt<lb/> haben die Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt <note place="foot" n="*">Denn der Bericht, daſs an den Küsten der Nordsee durch Sturmflu-<lb/> then groſse Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Aus-<lb/> wanderung der Kimbrer veranlaſst worden sei (Strabon 7, 293), erscheint<lb/> zwar uns nicht, wie den griechischen Forschern, mährchenhaft; allein ob er<lb/> auf Sage oder Ueberlieferung sich gründet, ist nicht zu entscheiden.</note> und kann auch<lb/> durch keine Muthmaſsung ergänzt werden, da die derzeitigen<lb/> Zustände nördlich von Böhmen und dem Main und östlich vom<lb/> unteren Rheine unseren Blicken sich vollständig entziehen. Da-<lb/> gegen dafür, daſs die Kimbrer und nicht minder der gleichartige<lb/> ihnen später sich anschlieſsende Schwarm der Teutonen ihrem<lb/> Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Rö-<lb/> mer sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen<lb/> die bestimmtesten Thatsachen: das Erscheinen zweier kleiner<lb/> gleichnamiger Stämme, vielleicht in den Ursitzen zurückgebliebe-<lb/> ner Reste, der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen<lb/> im nordöstlichen Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo schon<lb/> Alexander des Groſsen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des<lb/> Bernsteinhandels der Teutonen gedenkt; die Verzeichnung der<lb/> Kimbern und Teutonen in der germanischen Völkertafel unter den<lb/> Ingaevonen neben den Chaukern; das Urtheil Caesars, der zuerst<lb/> die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten kennen<lb/> lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen<lb/> haben muſs, den Deutschen beizählte; endlich die Völkernamen<lb/> selbst und die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges<lb/> Wesen, die zwar auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwie-<lb/> gend auf die Deutschen passen. Andererseits ist es begreiflich, daſs<lb/> ein solcher Schwarm, nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der<lb/> Wanderschaft sich befunden und ohne Zweifel jeden Waffenbruder,<lb/> der sich anschloſs, willkommen geheiſsen hatte, auf seinen Zügen<lb/> an und in dem Keltenland eine Menge keltischer Elemente in<lb/> sich aufgenommen hatte; so daſs es nicht befremdet, wenn Män-<lb/> ner keltischen Namens an der Spitze stehen oder wenn die Rö-<lb/> mer sich keltisch redender Spione bedienen um bei ihnen zu<lb/> kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessen gleichen die<lb/> Römer noch nicht gesehen hatten; nicht eine Heerfahrt reisiger<lb/> Mannschaft, sondern ein wanderndes Volk, das mit Weib und<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [164/0174]
VIERTES BUCH. KAPITEL V.
nach schon vor ihrem Auszug zum Volksnamen geworden war.
Sie kamen aus dem Norden und stieſsen unter den Kelten zuerst,
so weit bekannt, auf die Boier, wahrscheinlich in Böhmen.
Genaueres über die Ursache und die Richtung ihrer Heerfahrt
haben die Zeitgenossen aufzuzeichnen versäumt * und kann auch
durch keine Muthmaſsung ergänzt werden, da die derzeitigen
Zustände nördlich von Böhmen und dem Main und östlich vom
unteren Rheine unseren Blicken sich vollständig entziehen. Da-
gegen dafür, daſs die Kimbrer und nicht minder der gleichartige
ihnen später sich anschlieſsende Schwarm der Teutonen ihrem
Kerne nach nicht der keltischen Nation angehören, der die Rö-
mer sie anfänglich zurechneten, sondern der deutschen, sprechen
die bestimmtesten Thatsachen: das Erscheinen zweier kleiner
gleichnamiger Stämme, vielleicht in den Ursitzen zurückgebliebe-
ner Reste, der Kimbrer im heutigen Dänemark, der Teutonen
im nordöstlichen Deutschland in der Nähe der Ostsee, wo schon
Alexander des Groſsen Zeitgenosse Pytheas bei Gelegenheit des
Bernsteinhandels der Teutonen gedenkt; die Verzeichnung der
Kimbern und Teutonen in der germanischen Völkertafel unter den
Ingaevonen neben den Chaukern; das Urtheil Caesars, der zuerst
die Römer den Unterschied der Deutschen und der Kelten kennen
lehrte und die Kimbrer, deren er selbst noch manchen gesehen
haben muſs, den Deutschen beizählte; endlich die Völkernamen
selbst und die Angaben über ihre Körperbildung und ihr sonstiges
Wesen, die zwar auf die Nordländer überhaupt, aber doch vorwie-
gend auf die Deutschen passen. Andererseits ist es begreiflich, daſs
ein solcher Schwarm, nachdem er vielleicht Jahrzehnte auf der
Wanderschaft sich befunden und ohne Zweifel jeden Waffenbruder,
der sich anschloſs, willkommen geheiſsen hatte, auf seinen Zügen
an und in dem Keltenland eine Menge keltischer Elemente in
sich aufgenommen hatte; so daſs es nicht befremdet, wenn Män-
ner keltischen Namens an der Spitze stehen oder wenn die Rö-
mer sich keltisch redender Spione bedienen um bei ihnen zu
kundschaften. Es war ein wunderbarer Zug, dessen gleichen die
Römer noch nicht gesehen hatten; nicht eine Heerfahrt reisiger
Mannschaft, sondern ein wanderndes Volk, das mit Weib und
* Denn der Bericht, daſs an den Küsten der Nordsee durch Sturmflu-
then groſse Landschaften weggerissen und dadurch die massenhafte Aus-
wanderung der Kimbrer veranlaſst worden sei (Strabon 7, 293), erscheint
zwar uns nicht, wie den griechischen Forschern, mährchenhaft; allein ob er
auf Sage oder Ueberlieferung sich gründet, ist nicht zu entscheiden.
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