Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
zu privater und öffentlicher Erinnerung, sang sein Lied und
trieb seinen Spass in der landüblichen Wechselrede, dem
saturnischen Mass. ,Die Dichtkunst' sagt Cato, ,ward nicht
geehrt; wer sich damit abgab oder bei den Gastmählern
herumzog, der hiess ein Herumstreicher'. Das waren Impro-
visatoren, wie sie noch heute durch die römischen Oste-
rien ziehen; eine Litteratur gab es nicht. Allmählich fing
man an die klassischen Werke der Griechen zu lesen, anfangs
vermuthlich bloss um griechisch daraus zu lernen, das der
Kaufmann wie der Staatsmann brauchte; im Laufe der Zeit
aber entwickelte sich hieraus eine allgemeinere Kunde der
griechischen Litteratur. Zu Catos Zeit bereits war sie allge-
mein verbreitet; es kam schon vor, dass Senatoren beim
Becher griechische Verse declamirten. Sehr bald schlossen
sich hieran Versuche in römischer Sprache zu dichten und
zu publiciren. Um das Ende des ersten punischen Krieges
verfertigte ein Grieche aus Tarent, Andronicus, eine Ueber-
setzung der Odyssee in saturnischem Mass, vermuthlich statt
Commentars für die Schüler, die die Odyssee mit ihm lasen,
und Lust- und mehr noch Trauerspiele in griechischen Massen
und nach griechischen Mustern, die auch aufgeführt wurden;
doch erschienen der Mit- und Nachwelt diese Arbeiten mehr
als Curiositäten denn als Kunstwerke. Bedeutender in ge-
schichtlicher Beziehung ist Gnaeus Naevius (etwa 480-550),
der älteste lateinische Schriftsteller; er machte den Versuch
ein lateinisches Epos und Schauspiel zu schaffen, wobei er
in den Massen seinem Vorgänger folgte. Es ist Schade, dass
wir nicht mehr im Stande sind über den merkwürdigen Mann
ein eigenes Urtheil zu gewinnen; so gewiss auch er von Grie-
chenland seine Anregung empfing, so ist er doch, sowohl der
Zeit nach, in der er blühte, als seiner Herkunft und Stellung
nach -- er war ein Latiner aus Campanien, vermuthlich aus
einer der Latinerstädte daselbst, wie Suessa oder Cales, und
focht mit im ersten punischen Krieg -- als ganz besonders
nach den Spuren und Trümmern seines Wirkens zu schliessen,
keineswegs den Vertretern jenes oben bezeichneten Hellenis-
mus zuzuzählen. Vielmehr scheint er eine durchaus nationale
Richtung eingeschlagen und in wahrhaft genialer Weise die-
jenigen Elemente in dem italischen Volksleben aufgefasst zu
haben, die einer poetischen Belebung fähig waren: die Chronik
und die Komik. Die erstere schuf er, indem er die Geschichte
des ersten punischen Krieges, den er selbst mitgemacht hatte,

VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.
zu privater und öffentlicher Erinnerung, sang sein Lied und
trieb seinen Spaſs in der landüblichen Wechselrede, dem
saturnischen Maſs. ‚Die Dichtkunst‘ sagt Cato, ‚ward nicht
geehrt; wer sich damit abgab oder bei den Gastmählern
herumzog, der hieſs ein Herumstreicher‘. Das waren Impro-
visatoren, wie sie noch heute durch die römischen Oste-
rien ziehen; eine Litteratur gab es nicht. Allmählich fing
man an die klassischen Werke der Griechen zu lesen, anfangs
vermuthlich bloſs um griechisch daraus zu lernen, das der
Kaufmann wie der Staatsmann brauchte; im Laufe der Zeit
aber entwickelte sich hieraus eine allgemeinere Kunde der
griechischen Litteratur. Zu Catos Zeit bereits war sie allge-
mein verbreitet; es kam schon vor, daſs Senatoren beim
Becher griechische Verse declamirten. Sehr bald schlossen
sich hieran Versuche in römischer Sprache zu dichten und
zu publiciren. Um das Ende des ersten punischen Krieges
verfertigte ein Grieche aus Tarent, Andronicus, eine Ueber-
setzung der Odyssee in saturnischem Maſs, vermuthlich statt
Commentars für die Schüler, die die Odyssee mit ihm lasen,
und Lust- und mehr noch Trauerspiele in griechischen Maſsen
und nach griechischen Mustern, die auch aufgeführt wurden;
doch erschienen der Mit- und Nachwelt diese Arbeiten mehr
als Curiositäten denn als Kunstwerke. Bedeutender in ge-
schichtlicher Beziehung ist Gnaeus Naevius (etwa 480-550),
der älteste lateinische Schriftsteller; er machte den Versuch
ein lateinisches Epos und Schauspiel zu schaffen, wobei er
in den Maſsen seinem Vorgänger folgte. Es ist Schade, daſs
wir nicht mehr im Stande sind über den merkwürdigen Mann
ein eigenes Urtheil zu gewinnen; so gewiſs auch er von Grie-
chenland seine Anregung empfing, so ist er doch, sowohl der
Zeit nach, in der er blühte, als seiner Herkunft und Stellung
nach — er war ein Latiner aus Campanien, vermuthlich aus
einer der Latinerstädte daselbst, wie Suessa oder Cales, und
focht mit im ersten punischen Krieg — als ganz besonders
nach den Spuren und Trümmern seines Wirkens zu schlieſsen,
keineswegs den Vertretern jenes oben bezeichneten Hellenis-
mus zuzuzählen. Vielmehr scheint er eine durchaus nationale
Richtung eingeschlagen und in wahrhaft genialer Weise die-
jenigen Elemente in dem italischen Volksleben aufgefaſst zu
haben, die einer poetischen Belebung fähig waren: die Chronik
und die Komik. Die erstere schuf er, indem er die Geschichte
des ersten punischen Krieges, den er selbst mitgemacht hatte,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0643" n="629"/><fw place="top" type="header">VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE.</fw><lb/>
zu privater und öffentlicher Erinnerung, sang sein Lied und<lb/>
trieb seinen Spa&#x017F;s in der landüblichen Wechselrede, dem<lb/>
saturnischen Ma&#x017F;s. &#x201A;Die Dichtkunst&#x2018; sagt Cato, &#x201A;ward nicht<lb/>
geehrt; wer sich damit abgab oder bei den Gastmählern<lb/>
herumzog, der hie&#x017F;s ein Herumstreicher&#x2018;. Das waren Impro-<lb/>
visatoren, wie sie noch heute durch die römischen Oste-<lb/>
rien ziehen; eine Litteratur gab es nicht. Allmählich fing<lb/>
man an die klassischen Werke der Griechen zu lesen, anfangs<lb/>
vermuthlich blo&#x017F;s um griechisch daraus zu lernen, das der<lb/>
Kaufmann wie der Staatsmann brauchte; im Laufe der Zeit<lb/>
aber entwickelte sich hieraus eine allgemeinere Kunde der<lb/>
griechischen Litteratur. Zu Catos Zeit bereits war sie allge-<lb/>
mein verbreitet; es kam schon vor, da&#x017F;s Senatoren beim<lb/>
Becher griechische Verse declamirten. Sehr bald schlossen<lb/>
sich hieran Versuche in römischer Sprache zu dichten und<lb/>
zu publiciren. Um das Ende des ersten punischen Krieges<lb/>
verfertigte ein Grieche aus Tarent, Andronicus, eine Ueber-<lb/>
setzung der Odyssee in saturnischem Ma&#x017F;s, vermuthlich statt<lb/>
Commentars für die Schüler, die die Odyssee mit ihm lasen,<lb/>
und Lust- und mehr noch Trauerspiele in griechischen Ma&#x017F;sen<lb/>
und nach griechischen Mustern, die auch aufgeführt wurden;<lb/>
doch erschienen der Mit- und Nachwelt diese Arbeiten mehr<lb/>
als Curiositäten denn als Kunstwerke. Bedeutender in ge-<lb/>
schichtlicher Beziehung ist Gnaeus Naevius (etwa 480-550),<lb/>
der älteste lateinische Schriftsteller; er machte den Versuch<lb/>
ein lateinisches Epos und Schauspiel zu schaffen, wobei er<lb/>
in den Ma&#x017F;sen seinem Vorgänger folgte. Es ist Schade, da&#x017F;s<lb/>
wir nicht mehr im Stande sind über den merkwürdigen Mann<lb/>
ein eigenes Urtheil zu gewinnen; so gewi&#x017F;s auch er von Grie-<lb/>
chenland seine Anregung empfing, so ist er doch, sowohl der<lb/>
Zeit nach, in der er blühte, als seiner Herkunft und Stellung<lb/>
nach &#x2014; er war ein Latiner aus Campanien, vermuthlich aus<lb/>
einer der Latinerstädte daselbst, wie Suessa oder Cales, und<lb/>
focht mit im ersten punischen Krieg &#x2014; als ganz besonders<lb/>
nach den Spuren und Trümmern seines Wirkens zu schlie&#x017F;sen,<lb/>
keineswegs den Vertretern jenes oben bezeichneten Hellenis-<lb/>
mus zuzuzählen. Vielmehr scheint er eine durchaus nationale<lb/>
Richtung eingeschlagen und in wahrhaft genialer Weise die-<lb/>
jenigen Elemente in dem italischen Volksleben aufgefa&#x017F;st zu<lb/>
haben, die einer poetischen Belebung fähig waren: die Chronik<lb/>
und die Komik. Die erstere schuf er, indem er die Geschichte<lb/>
des ersten punischen Krieges, den er selbst mitgemacht hatte,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[629/0643] VERFASSUNG UND INNERE VERHAELTNISSE. zu privater und öffentlicher Erinnerung, sang sein Lied und trieb seinen Spaſs in der landüblichen Wechselrede, dem saturnischen Maſs. ‚Die Dichtkunst‘ sagt Cato, ‚ward nicht geehrt; wer sich damit abgab oder bei den Gastmählern herumzog, der hieſs ein Herumstreicher‘. Das waren Impro- visatoren, wie sie noch heute durch die römischen Oste- rien ziehen; eine Litteratur gab es nicht. Allmählich fing man an die klassischen Werke der Griechen zu lesen, anfangs vermuthlich bloſs um griechisch daraus zu lernen, das der Kaufmann wie der Staatsmann brauchte; im Laufe der Zeit aber entwickelte sich hieraus eine allgemeinere Kunde der griechischen Litteratur. Zu Catos Zeit bereits war sie allge- mein verbreitet; es kam schon vor, daſs Senatoren beim Becher griechische Verse declamirten. Sehr bald schlossen sich hieran Versuche in römischer Sprache zu dichten und zu publiciren. Um das Ende des ersten punischen Krieges verfertigte ein Grieche aus Tarent, Andronicus, eine Ueber- setzung der Odyssee in saturnischem Maſs, vermuthlich statt Commentars für die Schüler, die die Odyssee mit ihm lasen, und Lust- und mehr noch Trauerspiele in griechischen Maſsen und nach griechischen Mustern, die auch aufgeführt wurden; doch erschienen der Mit- und Nachwelt diese Arbeiten mehr als Curiositäten denn als Kunstwerke. Bedeutender in ge- schichtlicher Beziehung ist Gnaeus Naevius (etwa 480-550), der älteste lateinische Schriftsteller; er machte den Versuch ein lateinisches Epos und Schauspiel zu schaffen, wobei er in den Maſsen seinem Vorgänger folgte. Es ist Schade, daſs wir nicht mehr im Stande sind über den merkwürdigen Mann ein eigenes Urtheil zu gewinnen; so gewiſs auch er von Grie- chenland seine Anregung empfing, so ist er doch, sowohl der Zeit nach, in der er blühte, als seiner Herkunft und Stellung nach — er war ein Latiner aus Campanien, vermuthlich aus einer der Latinerstädte daselbst, wie Suessa oder Cales, und focht mit im ersten punischen Krieg — als ganz besonders nach den Spuren und Trümmern seines Wirkens zu schlieſsen, keineswegs den Vertretern jenes oben bezeichneten Hellenis- mus zuzuzählen. Vielmehr scheint er eine durchaus nationale Richtung eingeschlagen und in wahrhaft genialer Weise die- jenigen Elemente in dem italischen Volksleben aufgefaſst zu haben, die einer poetischen Belebung fähig waren: die Chronik und die Komik. Die erstere schuf er, indem er die Geschichte des ersten punischen Krieges, den er selbst mitgemacht hatte,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/643
Zitationshilfe: Mommsen, Theodor: Römische Geschichte. Bd. 1: Bis zur Schlacht von Pydna. Leipzig, 1854, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/mommsen_roemische01_1854/643>, abgerufen am 22.11.2024.